ElternLehrer

Plädoyer für Bildung 2.0

12.01.2017: Dieser Artikel ist 6 Jahre alt, man könnte ihn weitestgehend unverändert erneut veröffentlichen, wenn man davon absieht, dass damals von Smartphones in Kinderhänden noch nicht die Rede war.

Deutschland im Digitalen Dilemma

Kreidezeit in deutschen Klassenzimmern

Im multimedial-vernetzten Informationszeitalter werden Heranwachsende immer noch mit einem vornehmlich analog geprägten, traditionellen Schulsystem konfrontiert, das den drastisch veränderten Lebensumständen der „Digitalen Eingeborenen“, insbesondere den Jungen, immer weniger gerecht wird. Die Eintrittskarte in die digitale Zukunft heißt „Bildung 2.0“.

von Günter Steppich

Plakative Alliterationen sind ein probates Mittel, um mit Überschriften Aufmerksamkeit zu wecken, auch wenn leicht der Eindruck von plumpem Boulevardjournalismus entsteht. Doch da man mit nüchterner Sachlichkeit bei diesem Thema keinen Hund hinter dem sprichwörtlichen Ofen hervor holt, sind Für und Wider schnell ausgelotet. Bleibt die Wortwahl: Dilemma, Debakel, Drama? Oder doch Desaster? Nein, ganz so weit ist es noch nicht, auch wenn wir allen Studien zum Trotz erschreckend unbeirrt darauf zusteuern.

Deutsche SchülerInnen sind internationale Spitze – in Bezug auf die extensive, überwiegend unterhaltungsorientierte Nutzung digitaler Bildschirmmedien! Warum diese von ihrer Elterngeneration beharrlich als „Neue Medien“ etikettiert werden, ist Ihnen unverständlich, denn sie sind damit aufgewachsen und haben zum Teil die ersten Tippversuche noch vor den ersten Tippelschritten unternommen. In eben dieser Begrifflichkeit manifestiert sich der Kern des Dilemmas: Für die Mehrheit der Erwachsenen handelt es sich um „Neue Medien“, vielfach behaftet mit den üblichen Vorbehalten und Berührungsängsten gegenüber Neuem; für die Jugend ist es längst ein alter Hut, selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil ihrer Lebensrealität – und ihrer virtuellen Existenz! Dass Kinder und Jugendliche dabei mit ihren weitgehend autodidaktisch erworbenen und häufig oberflächlichen Kompetenzen auch zahlreiche negative und unangenehme Erfahrungen machen, weil ihnen elementare medienspezifische „Soft Skills“ und Sicherheitskenntnisse fehlen, verschweigen Sie ihren Eltern tunlichst.

Deutsche SchülerInnen sind international abgeschlagen – hinsichtlich ihrer schulischen Medienbildung! Studien der OECD und der EU bescheinigen uns diesbezüglich einen Rückstand von 10 Jahren auf die führenden Nationen, Tendenz zunehmend. Das größte Manko ist dabei noch nicht einmal die deutlich schlechtere Hardwaresituation, sondern die geringe Medienaffinität des Lehrpersonals: Während im Durchschnitt der anderen EU-Staaten 95% der Lehrer einen Mehrwert im Computereinsatz sehen, outen sich 35% der deutschen Pädagogen mit Zitaten wie: „Wir können nicht in den Computerraum gehen, wir müssen den Stoff durchkriegen“ als Computermuffel, die einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Computernutzung und Wissenserwerb annehmen und lieber Flipchart-Papier über ein elektronisches Whiteboard hängen, um weiterhin „normal“ schreiben zu können. Damit der bereits heute beklagte Fachkräftemangel im naturwissenschaftlich-technischen Bereich nicht noch deutlich zunimmt, muss hier schnell und entschlossen gegengesteuert werden, denn in unserer globalen Welt werden die Firmen zwangsläufig dorthin abwandern, wo sie mehr qualifizierte IT-Fachkräfte finden, und viele Spezialisten werden ihnen folgen.

Die Jungenkrise

Warum erzielen deutsche Viertklässler bei internationalen Schulstudien (IGLU) gute Ergebnisse, versinken aber bis zur neunten Klasse (PISA) im Mittelmaß, und warum betrifft dieses Phänomen v.a. die Jungen?

Mit Beginn der 90er Jahre gingen die Schulleistungen der Jungen dramatisch in den Keller. 1990 lagen Jungen und Mädchen im Hinblick auf Gymnasialempfehlungen, Sitzenbleiben, Schulabbrüche und Abiturabschlüsse noch gleichauf. Heute erhält nur noch jeder dritte Junge eine Gymnasialempfehlung (Mädchen: 43%), zwei Drittel der Schulabgänger und Sitzenbleiber sind Jungen und mit 55% legen deutlich mehr Mädchen, mit einem um fast eine ganze Note besseren Durchschnitt, das Abitur ab. Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN, 2007-09, www.kfn.de) erklären die Schulkrise der Jungen mit problematischem Medienkonsum, der sich in Interviews mit bis zu 43.500 Neuntklässlern offenbarte. Der kausale Zusammenhang mit Multimedia offenbart sich auch in der jährlich seit 1998 durchgeführten JIM-Studie (Jugend, Information, Multimedia / www.mpfs.de). Sie zeigte im Jahr 2000, dass 47% der Mädchen täglich oder mehrmals wöchentlich Bücher lasen, doch nur 25% der Jungen. Die Werte von JIM 2010 sind mit 48% zu 28% nahezu identisch. Umgekehrt sieht es dagegen in Bezug auf Videospiele (PC / Konsole) aus: Dort liegen die Jungen mit 55% weit vor den Mädchen (14%). Zwei Drittel der Jungen erklären Videospiele als „sehr wichtig oder wichtig“, ebenso viele Mädchen dagegen Bücher. Die mediale Kluft eröffnet sich aber auch ohne aufwändige Studien alltäglich in Bus und Bahn, in Parks oder Wartezimmern: Jungen sieht man vorwiegend mit tragbaren Spielekonsolen, Mädchen dagegen mit Büchern und Zeitschriften. Während also viele Mädchen in ihrer Freizeit aus eigenem Antrieb Lesetechniken vertiefen, die sie in der Schule gelernt haben, verhält sich die Mehrzahl der Jungen wie Klavierspieler, die zwar notgedrungen zum Unterricht gehen, aber zuhause nicht üben – entsprechend dürftig fallen die Fortschritte aus. Stattdessen vergnügen sich 55% von ihnen lieber mit gewalttätigen Spielen, die vielfach nicht für ihr Alter freigegeben sind. Laut JIM 2010 liest jeder vierte Junge niemals ein Buch, als Sammelbecken dieser Leseverweigerer dient die Hauptschule.

Im Jahr 1989 kam mit dem Nintendo Game Boy die erste mobile Spielekonsole auf den Markt, die weltweit ca. 120 millionenmal verkauft wurde, 1994 die Sony PlayStation, 1998 der Game Boy Color. Von der 2005 erschienen Nintendo DS wurden in Deutschland innerhalb von nur dreieinhalb Jahren 5 Millionen Exemplare verkauft – Sonys Playstation 2 (2001) hatte für diese Zahl noch doppelt so lange gebraucht! Alljährlich gehen bis zu 4,6 Millionen Konsolen über die Ladentische.

Die US-Autoren Weis und Cerankosky veröffentlichten im Februar 2010 in „Psychological Science“ eine Studie an 6- bis 9jährigen Jungen zur Auswirkung des Besitzes einer Spielekonsole auf deren Schulleistungen, bei der in einem Vortest Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse sowie schulische Probleme wie nicht oder schlecht gemachte Hausaufgaben, Disziplinprobleme, etc. erfasst wurden. Danach wurden zwei gleich starke Gruppen eingeteilt und jedes Kind der Versuchsgruppe bekam eine Play Station 2 geschenkt, Vorgaben zur Nutzung wurden dabei nicht gemacht. Die Kontrollgruppe musste sich vier Monate bis zur Übergabe des Geräts gedulden. Der Konsolenbesitz (es hätte ebenso ein anderes Fabrikat sein können) wirkte sich beim zweiten Test nach nur 4 Monaten so negativ auf die Leistung der Kinder aus, dass die Tester ernsthaft überlegten, ob die Übergabe der Geräte an die Kontrollgruppe überhaupt noch moralisch vertretbar war! Die Jungen hatten die Konsole ca. 40 Minuten täglich genutzt, schnitten nun im Lesen und Schreiben deutlich schlechter ab und hatten erheblich mehr Schulprobleme. Nur die Leistungen in Mathematik waren nicht beeinträchtigt. Überspitzt könnte man also sagen: „Wenn Sie wollen, dass ihr Kind in der Schule schlechtere Leistungen erbringt – schenken Sie ihm doch eine Spielekonsole!“ Auch nach der KFN-Studie gibt es eine negative Korrelation zwischen Bildschirmzeiten und Bildungsgang, selbst innerhalb der einzelnen Schulformen ist im statistischen Mittel der Bildschirmkonsum schwacher Schüler höher als bei guten. Auch andere Quellen, wie z.B. eine im Mai 2010 veröffentlichte Langzeitstudie der Universität Montreal, bestätigen diese Befunde.

Zu unterscheiden sind hier eine quantitative und eine qualitative Komponente:

Wenn laut der genannten Studie des KFN fünfzehnjährige Jungen durchschnittlich 141 Minuten pro Tag mit Videospielen und insgesamt 7,5 Stunden vor Bildschirmen verbringen, also deutlich mehr als in der Schule, wird offensichtlich, dass Bildschirme mächtige Zeitvernichter sind. Zeit, die dann für andere Aktivitäten – wie etwa Hausaufgaben und die Vorbereitung auf Klausuren – schlichtweg fehlt. Dieses Problem lässt sich, wenn es erkannt wird, durch die Einschränkung von Bildschirmzeiten relativ leicht lösen, einmal abgesehen vom zu erwartenden Unmut der Betroffenen.

Deutlich kritischer sieht es in qualitativer Hinsicht aus, wenn man weiß, dass die übermäßige Nutzung von emotional sehr beteiligenden Videospielen erheblichen Einfluss auf das Leistungsvermögen und die Gehirnentwicklung Heranwachsender hat: Insbesondere gewalthaltige Bildschirmspiele beeinträchtigen die Lernleistung, weil deren intensive Eindrücke in der ersten Schlafphase Lerninhalte überlagern und so deren Übernahme in das Mittel- und Langzeitgedächtnis verhindern. Wer sich also nach dem Lernen abends noch mit einem Ego-Shooter oder einem spannenden Onlinerollenspiel wie World of Warcraft (WoW) beschäftigt, gefährdet damit unmittelbar seinen Schulerfolg.

Die vermeintlich naheliegende Lösung, zuerst zu spielen und dann zu lernen, ist unbrauchbar, da wegen der enormen Ausschüttung von Stresshormonen die Konzentrationsfähigkeit nach aufregender, gewalthaltiger medialer Beschäftigung deutlich beeinträchtigt ist; der „Akku“ des Spielers ist dann erst einmal leer. Bei dieser Studie des KFN an 15-jährigen schnitt eine Tischtennis spielende Gruppe bei einem anschließenden Test mit einfachen Grundrechenaufgaben um satte 50% besser ab als Gruppe, die sich mit einem gewalthaltigen Spiel beschäftigt hatte.

Bei aufregenden Computerspielen sorgt zudem die massive Ausschüttung des Hormons Dopamin für Glücksgefühle und die Verknüpfung von Synapsen: Bildlich gesprochen werden „Nervenautobahnen“ angelegt, stabile Strukturen, die zu einer Verhaltenssucht führen können, weil der Erfolg im Spiel permanent das Belohnungssystem im Gehirn bedient. Insbesondere Spieler, die im realen Leben große Probleme (familiäre Schwierigkeiten, Versagensängste, Mobbing, Isolation, Misserfolg, Minderwertigkeitskomplexe) haben, laufen Gefahr, sich in virtuellen Ersatzwelten zu verlieren, weil sie dort klare Strukturen, Gerechtigkeit, Erfolg, Freunde und Anerkennung finden – Dinge, die sie im realen Leben vermissen. Das in der Entwicklung befindliche Gehirn von Jugendlichen passt sich sehr schnell und bei exzessiver Spieldauer irreversibel den Erfordernissen der Computerspiele an. Die kritische Grenze, bei der sich die genannten Veränderungen im Gehirn bereits mit bildgebenden Verfahren wie MRT und EEG nachweisen lassen, setzen Neurologen und Psychiater bereits bei ca. 90 Minuten täglichen Konsums, also deutlich unterhalb der oben genannten durchschnittlichen Spielzeit von Neuntklässlern!

Verglichen mit Offlinespielen, die nur auf dem eigenen Computer gespielt werden, bergen Onlinespiele ein weitaus höheres Suchtrisiko, denn es gibt keine begrenzte Anzahl an Leveln oder Spielsituationen, sie enden niemals und man kann sie zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Millionen von Spielern aus aller Welt gemeinsam spielen. Sie bieten so dem Spieler eine komplette Ersatzwelt. Durch zunehmende Spielzeiten verstärken sich die Probleme in der realen Welt, was wiederum zu einer noch intensiveren Flucht ins Virtuelle führt; ein Teufelskreis, der nur mit hohem therapeutischen Aufwand durchbrochen werden kann. Doch wer einmal computersüchtig war, lebt – wie ein Alkoholiker – in ständiger Rückfallgefahr, weil das mit dem Spielerlebnis verbundene Glücksgefühl unlöschbar im Gehirn verankert ist.

Im Gegensatz zu stoffgebundenen Süchten bleibt Computersucht häufig lange Zeit unbemerkt, weil die Betroffenen nicht ähnlich unangenehm auffallen wie Drogenabhängige und Alkoholiker. Sie glauben ihre Spielzeiten im Griff zu haben und verdrängen die negativen Auswirkungen auf soziale Beziehungen, Karriere und Gesundheit. Befragt, wie ihre Sucht hätte verhindert werden können, antworten sie allerdings in der Regel: „Meine Eltern hätten es früher erkennen müssen!“ Zurzeit gehen Experten von ca. 600.000 Computerspielern in Deutschland mit Suchtproblematik aus. Und da man in der Spielsuchtambulanz im Uniklinikum Mainz inzwischen Grundschüler mit unkontrolliertem Zugang zu Computerspielen als stärkste Risikogruppe für spätere Sucht identifiziert hat, wird diese Zahl wohl noch deutlich steigen, denn wer schon als Kind regelmäßig Erfolgserlebnisse und Glücksgefühle mit Computerspielen hatte, greift als Jugendlicher zur Kompensation von Misserfolgen und Problemen dankbar auf bewährte Erfolgsmuster zurück. Jungen sind von dieser Problematik erheblich stärker betroffen als Mädchen, weil sie mehr als doppelt so lange Spielzeiten aufweisen und auch deutlich gewalthaltigere Spiele bevorzugen.

Zudem kommt eine Metastudie des Aggressionsforschers und Computerspielexperten Craig Anderson, die alle sauber durchgeführten Studien zusammenfasst, zu dem eindeutigen Ergebnis: Gewaltspiele wirken bei intensiver, und v.a. nicht altersgemäßer Nutzung, aggressionsfördernd und gefährden Heranwachsende, da sie gegenüber Gewalt desensibilisieren und das Sozialverhalten beeinträchtigen. Die Auswirkungen bezeichnet er zwar als „nicht überwältigend“, aber doch Gewalt verschärfender als andere Ursachen wie z.B. prügelnde Eltern. Zudem bestehe eine erhebliche Risikoerhöhung, wenn andere Faktoren dazu kommen, wie ein problematisches soziales Umfeld, bereits vorhandene Gewaltbereitschaft oder psychische Probleme.

Während das Videospielproblem fast ausschließlich Jungen betrifft, zeigen zunehmend auch Mädchen suchtähnliches Verhalten in Bezug auf digitale Kommunikation. Geradezu zwanghaft müssen permanent Emails, Chat-Nachrichten und Statusmeldungen aus diversen Sozialen Netzwerken abgerufen werden, um ja nichts zu verpassen. Ernsthafte Konzentration auf Dinge wie Hausaufgaben ist neben solcher Dauerkommunikation kaum noch möglich. Verschärfend wirkt, dass Handyprovider in jüngster Zeit vermehrt auch über Prepaid-Handys, die vorwiegend von Kindern und Jugendlichen genutzt werden, Gratiszugang zu sozialen Netzwerken wie Facebook oder SchülerVZ ermöglichen. Der Drogen- und Suchtbericht 2009 der Bundesregierung geht von zwischen 1,2 und 2,8 Millionen Onlinesüchtigen und ebenso vielen stark gefährdeten aus.

Digital Natives

Trotzdem ist in der deutschen Bildungspolitik immer noch nicht angekommen, dass Heranwachsende heute gänzlich anders aufwachsen und geprägt werden als noch vor 20 Jahren. Die Generation der „Digital Natives“ kennt aufgrund der endlosen multimedialen Möglichkeiten keine Langeweile mehr, kann entsprechend schlecht damit umgehen, und hat daher zunehmend Probleme mit einem althergebrachten, rotstiftgeprägten „Belehrungssystem“, das ihnen – in krassem Gegensatz zu ihrem rundum digital geprägten Privatleben – eine vorwiegend passive, konsumierende Rolle mit wenig Raum für Eigeninitiative und Selbstbestimmung zuweist, und das sie v.a. als langweilig und stresserzeugend erleben. Jungen haben damit offenkundig erheblich mehr Probleme als Mädchen und sind entsprechend weniger erfolgreich, auch weil sie häufiger versuchen, mit Undiszipliniertheiten aus Langeweile und Passivität auszubrechen. Multimediakids und traditioneller Unterricht passen einfach nicht zusammen! Aber laut dem Jahresbericht der Hessischen Schulinspektion ist Frontalunterricht an weiterführenden Schulen immer noch die dominante Unterrichtsform, an Gymnasien sogar zu 61%, obwohl längst erwiesen ist, dass isolierte Informationsaufnahme mittels Lesen (10%), Hören (20%) oder Sehen (30%) nur geringe Erinnerungsquoten erzielt, während die Kombination mehrerer Kanäle (audiovisuell: 50%) und insbesondere die aktive Umsetzung von Lerninhalten (Sprechen, Singen, Präsentieren: 80% / Rollenspiel: 90%) weitaus nachhaltiger wirkt.

Konsequenzen

Um den freien Fall zu verhindern, ist daher eine groß angelegte Medienbildungsoffensive unumgänglich, in deren Rahmen das problematische Ungleichgewicht zwischen extensiver, beliebiger Mediennutzung in der Freizeit und dem deutlichen Mangel an qualifizierter schulischer Medienbildung umgekehrt wird. Dazu muss der Teufelskreis in Bezug auf informationstechnische Schul- und Lehrerbildung unterbrochen werden, denn gymnasiale Bildung, universitäre Lehramtsstudiengänge und auch die zweite Phase der Lehrerausbildung an den Studienseminaren haben immer noch eines gemeinsam: Solide medientechnische Grundbildung wird nicht vermittelt, schon gar nicht verpflichtend. Neben fehlenden grundlegenden Konzepten mangelt es an Lehrern, Dozenten und Ausbildern, die IT-Kenntnisse kompetent vermitteln können. Und so ist es heute immer noch möglich, nach einem computerabstinenten Abitur ein medienfernes Lehramtsstudium samt anschließendem Referendariat zu durchlaufen und in den Schuldienst einzutreten, ohne die Grundlagen der Technik zu beherrschen, die eine entscheidende Rolle für die Zukunft unseres Bildungssystems spielt. Nach einer Bitkom-Studie von 2010 benutzen 43% aller Schüler selten oder nie PCs im Unterricht! Dass das Angebot an IT-bezogenen Fortbildungsmöglichkeiten zunimmt, ist zwar erfreulich, bewirkt aber nur wenig, solange die Einsicht in die Notwendigkeit und den pädagogischen Mehrwert moderner Informations- und Kommunikationstechnologien bei einem Großteil der Lehrerschaft nicht vorhanden ist und diese Fortbildungen nicht verbindlich belegt werden müssen.

Bezüglich der technischen Voraussetzungen gibt es in Deutschland immer noch weit weniger Rechner pro Schüler als in anderen Nationen, v.a. was mobile Geräte betrifft. Der gravierendste Unterschied besteht jedoch hinsichtlich professionellem Support und qualifizierten IT-Fachlehrern. Während sich führende Nationen dafür hauptamtliche Administratoren und Techniker leisten, sollen in Deutschland vornehmlich Lehrkräfte, die häufig gar keine ausgebildeten Informatiker sind, mit einem Minimum an Entlastungsstunden sicherstellen, wofür jede Firma professionellen IT-Support benötigt. So führen schon Fälle von leichtem Vandalismus, wie etwa das Vertauschen von Buchstaben auf der Tastatur, dazu, dass Schulrechner manchmal wochenlang nicht benutzbar sind, und die Gefahr, dass die Technik (mal wieder) nicht oder nur teilweise funktioniert, lässt viele Pädagogen das Risiko PC-Raum lieber vermeiden.

Noch betrüblicher sieht es im Grundschulbereich aus, wo die Funktion des IT-Beauftragten in manchen Fällen sogar ausgelost wird, weil niemand im Kollegium über die erforderlichen Kenntnisse verfügt. Soll Medienbildung in der Grundschule geleistet werden, ist selbstredend entsprechende Aus- und Weiterbildung nötig, aber so trivial diese Schlussfolgerung auch klingt, von der Umsetzung sind wir weit entfernt.

Ganztag

Doch bei der großen Reform der Bildungssysteme, die nahezu alle OECD-Länder schon in den 80er und 90er-Jahren realisiert haben, hat man in Deutschland nicht nur die Informationstechnologie, sondern auch eine weitere, elementare Notwendigkeit übersehen, welche die PISA-Gewinner einhellig umgesetzt haben: Die flächendeckende Einführung eines Ganztagsschulsystems, das vor allem auch Kindern aus bildungsfernen Schichten und problematischen Familienverhältnissen faire Bildungschancen eröffnet. Bezogen auf das Missverhältnis zwischen schulischer und häuslicher Mediennutzung bewirkt die Ganztagsschule schon per se eine deutliche Reduzierung ungehemmter häuslicher Bildschirmnutzung. Ganz abgesehen davon reichen in unserer immer komplexeren Welt Halbtagsschulen mit überfrachteten Lehrplänen einfach nicht mehr aus, weil nachhaltiges Lernen Zeit erfordert. Kinder heute brauchen eine „Bildung 2.0“, einen neuen, kompetenzorientierten Typus von Schule, der es erlaubt, sich Bildung aktiv und produktiv, unter Nutzung interaktiver, vernetzter Medien, in hohem Maß individuell, eigenständig und selbstverantwortlich anzueignen und weiterzugeben. Wissen ist heute hochgradig dynamisch, und es ist zum größten Teil im Netz abrufbar. Angesichts der Wissensexplosion im digitalen Zeitalter muss die Vermittlung bloßer Fakten mehr exemplarischem Wissen, Zusammenhängen und Problemlösestrategien weichen. Lehrer sind in diesem kompetenzorientierten Konzept keinesfalls überflüssig, sondern im Gegenteil deutlich effizienter und weniger belastet, weil sie nicht mehr Be-Lehrer, sondern Lernberater und Coaches sind. Die althergebrachte, überwiegend passiv-konsumierende „Bildung 1.0“ wird heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht.

Ausblick

Ohne die Umsetzung der Vereinbarung der Länder, die Bildungsausgaben bis 2015 auf 10% des Bruttoinlandsprodukts zu steigern, ist dieser Wandel sicherlich nicht zu realisieren. Schon zum Zeitpunkt der PISA-Studie 2000 investierten die PISA-Gewinner pro Schüler jährlich bis zu 2000 € mehr in ihre Bildungssysteme. Doch nachdem Deutschland bei PISA 2000 die Plätze 20 bzw. 21 unter 31 Teilnehmern belegt hatte, bescheinigte eine OECD-Studie von 2006 bezüglich der Bildungsausgaben Platz 29 von 34 Ländern, tief in der Abstiegszone.

Wenig Erfreuliches bringt folgerichtig auch PISA 2009: Deutschland hat sich nur geringfügig verbessert, insbesondere bei den Leseleistungen bestehen weiterhin erhebliche Defizite. Gesteigert haben sich hier NUR die Mädchen, die einen Vorsprung von ca. einem Schuljahr gegenüber den Jungen aufweisen. In der Spitzengruppe finden sich inzwischen mehr als doppelt so viele Mädchen (11%) wie Jungen (4,4%), im schwächsten Level dagegen nur halb so viele (12,7% zu 24%). Ein Viertel der Jungen liegt also wie bei PISA 2000 (26,6%) auf dem Leseniveau von Grundschülern, während der Anteil im höchsten Level sogar um 2,3% gesunken ist.

Die Konzepte zur Leseförderung sind also schlicht und ergreifend an den Jungen weitestgehend abgeprallt, sie haben den Kampf gegen Multimedia klar verloren. In neun Jahren wurden am Low End gerade einmal 2,6% gewonnen, aber gleichzeitig an der Spitze 2,3% eingebüßt: Ein trauriges Plus von 3 Promille, das als „Aufstieg in die 1. Liga“ proklamiert wird! Und wie in allen anderen Bildungsstudien wird dem deutschen Schulsystem weiterhin ein Spitzenplatz in punkto soziale Ungerechtigkeit attestiert.

Schon die Dakota-Indianer wussten: „Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steig’ ab!“ Die Erhöhung der Qualitätsstandards für den Beritt toter Pferde ist keine taugliche Alternative.

Fazit

Forsches Fazit frei nach Faust: „Der Zahlen sind genug erhoben, lasst mich auch endlich Taten seh’n!“

Hinweis: Dieser Artikel erschien auch in „Schulverwaltung“, Ausgabe Hessen/Rheinland-Pfalz, 3/2011 sowie Ausgabe Bayern, 6/2011, Verlag Wolters Kluver

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