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iPads für Fünftklässler zur schulischen und privaten Nutzung?

Ein gut gemeintes IT-Projekt der Stadt Wiesbaden, das leider vorschnell übers Knie gebrochen und nicht zu Ende gedacht wurde.

Details dazu unter https://piwi.wiesbaden.de/sitzungsvorlage/detail/3004676

Die Stadt Wiesbaden will zum 2. Halbjahr des laufenden Schuljahres allen Eltern von FünftklässlerInnen für eine monatliche Rate von maximal 10 € ein iPad 10 anbieten. Was auf den schnellen ersten Blick wie eine schicke, zeitgemäße Ideewirkt, offenbart bei genauen Hinsehen deutlich mehr Schatten als Licht und wirft eine ganze Reihe ungeklärter Fragen auf:

Warum wurden bei einer so einschneidenden Maßnahme nicht vorab Meinung und Expertise der betroffenen Schulen eingeholt? Würde in einer Firma die Vorstandsetage eigenmächtig über erhebliche Änderungen im Produktionsprozess entscheiden, ohne dazu die Expertise der Belegschaft einzuholen, wäre das für die Firma existenzbedrohend. Aber im Schulbereich ist ein solches Vorgehen leider eher die Regel als die Ausnahme, und wird immer auf den Rücken von Kindern und Jugendlichen ausgetragen! Es war ja schließlich jede/r mal SchülerIn und meint daher, solche Dinge zuverlässig einschätzen zu können…
Wie kommt man auf die bizarre Idee, iPads ohne ein vorab entwickeltes, tragfähiges pädagogisches Konzept an Kinder zu verteilen? Schulen, die Gelder aus dem Digitalpakt abrufen wollen, müssen dafür aus gutem Grund ein IT-Konzept nachweisen, hier werden dagegen tausende SchülerInnen mit mobilen Endgeräten ausgestattet, ohne dass deren konkreter Einsatz im Unterricht auch nur ansatzweise geklärt ist. Wie soll eine Schulleitung unter diesen Voraussetzungen gegenüber ihrer Elternschaft eine Empfehlung zu diesem Angebot abgeben?
Warum hat man sich keinerlei Gedanken über denJugendmedienschutz gemacht? Die Stadt Wiesbaden hat als einzige in Hessen in mir einen ausgewiesenen Fachberater für Jugendmedienschutz am Staatlichen Schulamt. Auf die Idee, vorab meine Meinung einzuholen, kam niemand.Geräte von Kindern müssen unbedingt altersgemäß eingeschränkt werden. Unter iOS ist das mit Bordmitteln machbar, aber wer erklärt das den Eltern? Trotz entsprechender Beratung nutzen das im Jahrgang 5 meiner Schule 55% der Eltern nicht! Wird die Nutzung des Internets für Kinder nicht altersgemäß eingeschränkt und von den Eltern intensiv begleitet wird, können die Kids sich auf ca. 2 Mrd. Websites tummeln und dort potentiell ca. 5 Mrd. Menschen begegnen. Schon vor Corona hatten laut aktuellen Studien ca. 80 % der 12jährigen bereits mindestens ein heftiges Onlineerlebnis, auf dass sie gerne verzichtet hätten, was v.a. auch an der mangelnden Aufklärung in Elternhaus und Schule über Onlinerisiken liegt. Dazu kommt, dass Kinder solche Erlebnisse häufig vor ihren Eltern verschweigen, aus Angst, sie könnten das Smartphone weggenommen bekommen.
Als die Bildschirmzeiten während der Corona-Lockdowns explodierten, nahmen Cybergrooming, Cybermobbing und Sexting ebenso explosiv zu. Je mehr Kinder einer Klasse ein mobiles Endgerät besitzen, desto mehr digitale Konflikte entstehen unweigerlich, es ist daher auch mehr Prävention und Intervention nötig. Wer soll und kann das leisten, und wieviel Unterrichtszeit muss darauf verwendet werden?
Aktuell liegt der tägliche Bildschirmkonsum von 12-19jährigen laut JIM-Studie an Schultagen bei etwa 7 Stunden, nur ca. 10 % davon werden für schulische Aktivitäten verwendet. Nach Corona liegt der tägliche Konsum von Games und Social Media um etwa eine Stunde höher als davor (welche Aktivitäten sind dafür unter den Tisch gefallen?) und männliche Jugendliche verbringen an jedem Schultag durchschnittlich 2,5 Stunden allein mit Videospielen (Quelle: JIM-Studien).
Effizienter Einsatz in der Schule? Die iPads sollen privat inklusive Games und Social Media Apps frei genutzt werdenkönnen – ein Ablenkungspotential, das sie für den Unterricht der Unterstufe disqualifiziert. Zwar gibt es eine Verwaltungssoftware von Apple zur Beschränkung der Geräte im Schulnetz, doch deren Bedienung überfordert viele Lehrkräfte, und keineswegs nur ältere Semester; selbst aktuelle ReferendarInnen sind für digitale Themen nicht ausreichend ausgebildet. Wir praktizieren ständig Learning by Doing, Versuch & Irrtum, auch wenn wir unter Corona digital viel dazugelernt haben. Um der Kontrolle zu entgehen, muss ein Kind am iPad lediglich das WLAN abschalten – bis die Lehrkraft (vielleicht) irgendwann bemerkt, dass da jemand nicht im Schulnetz ist! Die enorme Kreativität bei der Umgehung von technischen Restriktionen kennen wir ja spätestens seit der Zeit der Sprachlabore.
Nächste Frage: Was mache ich denn im Unterricht, wenn manche Kinder kein iPad haben? Schließlich gibt es gute Gründe für Eltern von 10jährigen, dieses Angebot abzulehnen, weswegen wir an der Gutenbergschule die Nutzung privater Geräte in der Unterstufe kategorisch ausschließen. In höheren Jahrgängen ist das ein ganz anderes Thema, aber auch da keineswegs problemlos.

Die Schulranzen würden also ohne schulischen Mehrwert noch ein Pfund schwerer, aber die Kids könnten sich die Busfahrt prima mit Games vertreiben… Nebenbei: Wer weiß, wie Fünftklässler ihre Ranzen behandeln, packt da iPads nur in bombensicher-wasserdichten Stahlhüllen rein!

Ein im doppelten Sinn „gewichtiges“ Plus wäre sicherlich die Installation sämtlicher Bücher als eBooks, doch für Lehrmittel ist das Land Hessen zuständig, nicht die Stadt. Entsprechende Lizenzen gelten meist für ein Jahr, ignorieren aber die Termine der Sommerferien und können Wochen davor ablaufen. Generell ist die Angst der Verlage vor Raubkopien leider ein enormer Bremsklotz für bzw. gegen eLearning.

Und zuhause? Wie bewegt man Eltern dazu, die Kindersicherung von iOS zu verwenden? Und wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind das iPad gerade für die Schule oder zur Bespaßung nutzt? Während der Corona-Lockdowns verloren Eltern weitestgehend die Kontrolle darüber, ob ihre Kinder schulisch oder privat am Bildschirm saßen – dieses Projekt zementiert das als Dauerzustand! EntsprechendeEinwände des Stadtelternbeirats, der das Vorhaben als „übers Knie gebrochen“ bezeichnet, wurden konsequent ignoriert. In der FAZ wies Schuldezernent Axel Imholz auch meine detaillierte Kritik pauschal zurück, Argumente dagegen blieb er allerdings schuldig. Er wolle „ggf. nachjustieren“ – wie das konkret aussehen soll, wenn die Geräte erst einmal verteilt sind, verriet er nicht.

Ach ja: Wie ist der elterliche Monatsbeitrags von 10 € eigentlich mit der hessischen Lernmittelfreiheit vereinbar? Und seit wann ist die technische Ausstattung der Schulen Aufgabe des Landes Hessens und nicht mehr des Schulträgers, also der Stadt Wiesbaden?

Unter solchen ungeklärten Voraussetzungen will die Stadt Wiesbaden tausende Kinder ohne jegliches pädagogisches Konzept mit iPads ausstatten – da fehlt nur noch der Aufkleber:“Liebe Eltern und Lehrkräfte, dann seht mal zu, was ihr draus macht!“ Mich erinnert dieses Prozedere an Großeltern, die ihren Enkeln Smartphones schenken, ohne das vorab mit deren Eltern abzuklären.

All diese und diverse weitere Fragen (wie sieht es z.B. auf Geräten eines US-amerikanischen Marktführers in puncto Datenschutz und Akquise künftiger KundInnen aus?) hätten im Vorfeld einer solchen Entscheidung mit den betroffenen Schulen und der Elternvertretung sorgfältig und einvernehmlich geklärt werden müssen. Stattdessen wählte die Stadt einen Alleingang, der bei den Schulen weitaus weniger Begeisterung ausgelöst hat, als sie in ihren Pressemitteilungen suggeriert. Von einigen Schulen habe ich bereits Rückmeldung, dass sie definitiv nicht teilnehmenwerden. Als das Projekt in der Gesamtkonferenz meiner Schule vorgestellt wurde, ging kollektives Kopfschütteln durch den Raum.

Fazit: Digitalisierung der Schulen, ja bitte, ich bin da ganz vorne dabei, aber eben nicht mit unausgegorenen Ideen und Privatgeräten – solche Projekte sind in anderen Ländern längst gescheitert – sondern mit vernünftig ausgestatteten Schulen und schulischen Endgeräten, auf denen die Kids nicht al gusto Apps installieren können.

Meine ZehntklässlerInnen sagen sehr selbstkritisch, dass sie selbst immer wieder Probleme haben, sich in der Schule nicht von ihren privaten Tablets ablenken zu lassen, die sie im Unterricht u.a. als Heftersatz verwenden dürfen – und fragen sich, wie das dann bei den Kleinen funktionieren soll… O-Ton aus meinem 10er Informatikkurs, in dem an etlichen der überalterten Schultablets bereits nach 20 Minuten der Akku versagt: „Die Stadt sollte besser erstmal die alten Schulgeräte ersetzen!“ Ein entsprechender Antrag der Gutenbergschule wurde kürzlich abgelehnt.

Gegenvorschlag: Die geplanten 1,1 Mio € pro Jahr wären besser in den defizitären IT-Support der Schulen investiert, anstatt in private Hardware für Kinder. Der Personalschlüssel in Wirtschaft und Behörden lautet eine volle IT-Stelle pro 100 Endgeräte. Davon sind wir in der Schullandschaft Lichtjahre entfernt, und deswegen ist digital gestützter Unterricht alltägliche Lotterie für uns Lehrkräfte. Ich befürchte, dass wir mit der aktuellen Belegschaft des Medienzentrums nicht einmal unter 1:1000 kommen! Wir bräuchten aber dringend an jeder weiterführenden Schule mindestens eine IT-Vollzeitstelle, an meiner Gutenbergschule angesichts der aktuellen Ausstattung sogar zwei!

Allerdings sind IT-Fachkräfte für die im öffentlichen Dienst gezahlten Gehälter so gut wie gar nicht zu finden. Diese verdienen in der Wirtschaft ein Vielfaches und sind auf dem Arbeitsmarkt ohnehin Mangelware. Das wiederum liegt an der Tatsache, dass das Fach Informatik an deutschen Schulen seit Jahrzehnten einen viel zu geringen Stellenwert hat, und da beißt sich die digitale Katze in den Schwanz…

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