Ab in die Zukunft – aber wie? Schulen im digitalen Dilemma
Im August 2017 hatte ich die Gelegenheit, meine Einschätzung der digitalen Situation an den Schulen in diesem Interview mit der Süddeutschen Zeitung darstellen zu dürfen:
http://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-in-der-schule-plan-b-analog-1.3621410
Dieses Thema möchte ich hier noch einmal aufgreifen.
Das Fazit vorweg: Deutschland 2017 ist ein digitales Entwicklungsland! 1999 und 2001 habe ich Schüler zum Austausch nach England und in die USA begleitet. Die IT-Situation an den Schulen dort war damals bereits besser als heute an den meisten deutschen Schulen, denn sie verfügten schon über hauptamtliche Systemadministratoren und Techniker, während sich die Lehrkräfte auf ihre pädagogische Arbeit mit den digitalen Arbeitsmitteln konzentrieren konnten.
Ausstattungsmäßig steht meine eigene Schule relativ gut da, es fehlt aber professioneller IT-Support auf einem Niveau, das in Firmen und Behörden Standard ist: Eine Vollzeitkraft auf ca. 100 Geräte. Davon sind unsere Schulen Lichtjahre entfernt, in der Regel ist ein beim Schulträger angestellter IT-Techniker für mehr als 1000 Endgeräte zuständig. Entsprechend lange dauert es, bis Supportanfragen bearbeitet werden. Die Schulen versuchen, diese Personallücke mit medienaffinen Lehrkräften auszubügeln, aber mit der Reduzierung von ein bis zwei Unterrichtsstunden oder Mehrarbeitsgeld für Lehrer mit solchen Zusatzaufgaben ist das nicht ansatzweise zu schaffen. Keine Firma oder Behörde käme auf die Idee, einen Mitarbeiter zusätzlich zu seinem regulären Job zum de facto ehrenamtlichen Administrator zu ernennen – im Schulbereich ist das nach wie vor Standard. Dass dieses Konzept nicht funktionieren kann, ist offensichtlich, Lehrkräfte sind nun einmal Pädagogen und keine Techniker.
Da zudem studierte Informatiker an den Schulen Seltenheitswert haben und im Grundschulbereich gar nicht zu finden sind, sind schulische IT-Beauftragte i.d.R. gezwungen, sich die nötigen Kenntnisse fachfremd und autodidaktisch anzueignen.
Zusatzinvestitionen wie die angedachten fünf Milliarden aus dem Bildungspakt von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sind also dringend nötig, werden aber keine Wirkung erzielen, wenn sie – wie avisiert – nur in neue Hardware investiert werden dürfen, aber nicht in professionellen Support. Nach den digitalen Whiteboards hätten wir nur ein weiteres digitales Milliardengrab; ich möchte gar nicht wissen, wie viele davon in deutschen Schulen hängen und nicht mehr richtig funktionieren.
Problematisch wirken hier auch verteilte Zuständigkeiten: Der Bund will in schnelles WLAN und stationäre Hardware investieren. Für mobile Endgeräte und Support sollen die Schulträger sorgen, also Städte und Gemeinden. Für didaktische Konzepte sowie Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte sind wiederum die Kultusministerien der Länder zuständig. Wenn also ein Schulträger wegen knapper Kassen den Support für die neue Hardware nicht leisten kann und das pädagogische Personal nicht ausreichend geschult ist, um einen Mehrwert aus der digitalen Ausstattung zu ziehen, verdampfen Milliarden im digitalen Nirwana. Und SchülerInnen in finanzstarken Regionen werden deutlich besser auf die digitale Welt vorbereitet als andere.
Ein Praxisbeispiel: An meinem Wiesbadener Gymnasium gibt es vier Tablet-Wagen mit jeweils einem Klassensatz. Die Wagen können für den Unterricht gebucht werden, die Tablets müssen anschließend einsortiert, mit dem Ladegerät des Wagens verbunden und dieses an eine Steckdose gehängt werden, was gelegentlich vergessen wird. Einen Techniker vor Ort, der sich um die Geräte kümmert, gibt es nicht. Der nächste findet dann nicht aufgeladene Tablets vor und kann seine geplante Stunde vergessen. Oder das WLAN funktioniert nicht oder die SchülerInnen können sich aus mysteriösen Gründen nicht einloggen oder die Tablets ziehen erst einmal 20 Minuten lang Updates…
Also greift Plan B: Analog – man muss immer doppelt planen, was auf Dauer nicht geht. Unsere Arbeitsbelastung hat auch abseits der Digitalisierung stark zugenommen, Arbeitszeit und Verwaltungsaufgaben wurden erhöht, die Kinder sind nicht einfacher geworden, die Eltern auch nicht, da wägt man sehr genau ab, wofür man Zeit investieren kann. Nicht zuverlässig funktionierende digitale Endgeräte sind ein KO-Kriterium.
Der zunehmende Ruf nach BYOD (bring your own device), d.h. Einsatz von Schülerhandys im Unterricht, ist keine Lösung, weil dieses Konzept eine ganze Reihe eklatanter Schwachpunkte aufweist und keinesfalls gleichwertigen Ersatz für schuleigene IT darstellt: Zum einen arbeiten die SuS dabei unter extrem unterschiedlichen Voraussetzungen bezüglich Hard- und Software, zum anderen bieten die auf privaten Geräten installierten populären Apps und deren Benachrichtigungen ein gigantisches Ablenkungspotential, gegen das auch der beste Unterricht chancenlos ist. Insbesondere in jüngeren Jahrgangsstufen ist das eine Situation, in der man mit Boardmarkern gegen Schusswaffen antritt.
Von den technischen Voraussetzungen zu den medienpädagogischen: In allen internationalen Vergleichsstudien erweisen sich deutsche Lehrkräfte als unterdurchschnittlich medienkompetent, grundsätzlich sind wir schon immer eine unterdurchschnittlich technikaffine Berufsgruppe, was aktuell sowohl eine Studie von Ralf Biermann („Der mediale Habitus von Lehramtsstudierenden“, 2009) als auch meine Erfahrungen mit ca. 150 ReferendarInnen pro Schuljahr belegen. Von daher sind digitales Interesse und Medienkompetenz nicht primär altersbedingt, auch viele junge KollegInnen haben einen digitalen Horizont, der kurz hinter Whatsapp und Facebook endet. Was bei Kindern und Jugendlichen aktuell populäre Apps wie Snapchat, Instagram oder musical.ly betrifft, ist die große Mehrheit der Lehrkräfte diesbezüglich absolut szenefremd und fällt daher auch als Beratungsinstanz in Sachen Medienerziehung aus. Das wird aber immer wichtiger, da die große Mehrheit der Eltern mit diesem Thema heillos überfordert ist und die Schulen sich schon aus „Notwehr“ damit befassen müssen, weil digitale Konflikte und Probleme immer stärker in den Schulalltag hinein wirken.
Fundiertes digitales Fachwissen bringen nur wenige Nachwuchskräfte mit, denn auch über 20 Jahre nach dem Einzug des Internets an den Schulen ist digitale Lehrerbildung an den Universitäten ein fakultatives Randthema, obwohl sie längst obligatorisch sein müsste. Fraglich ist allerdings, ob dafür ausreichend medienkompetente Dozenten zur Verfügung stünden. An den Studienseminaren ist das definitiv nicht der Fall, da hier fast alle Ausbilder selbst Lehrkräfte sind.
Dass Kritiker der Digitalisierung auf diverse Studien verweisen können, die keinen Nutzen des Lernens und Lehrens mit digitalen Medien aufzeigen konnten, liegt schlicht daran, dass der Großteil der Lehrkräfte mangels Medienkompetenz nicht in der Lage ist, deren Mehrwert auszuschöpfen. Die Evaluation eines zweijährigen, wissenschaftlich begleiteten Tablet-Projekts an vier Wiesbadener Schulen ergab denn auch ein eindeutiges Schülerfazit: „Wenn Lehrer sich auskennen, ist es cool, macht Spaß und man lernt mehr. Bei Lehrern, die schon mit der grundlegenden Bedienung von Beamer, Notebook, Tablet und Whiteboard kämpfen, ist es reine Zeitverschwendung.“
Auf der pädagogischen Seite mangelt es insbesondere an intensiver, fachspezifischer Fortbildung, die unabdingbar ist, wenn bei der Arbeit mit digitalen Arbeitsmitteln ein Mehrwert herausspringen soll. Andernfalls wird ein digitales Whiteboard zur Anzeigefläche für Youtube-Videos und Präsentationen degradiert – das ist deutlich billiger zu haben! Effizient sind hier v.a. Schulungen durch medien- wie fachkompetente Lehrkräfte, die dafür aber entsprechend freigestellt werden müssten. Externe ReferentInnen haben leider häufig zu wenig Einblick in unsere Berufswirklichkeit und zu geringe fachdidaktische Kenntnisse.
Wenn wir nicht zeitnah deutlich mehr Ressourcen in professionellen Support sowie fachspezifische digitale Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte investieren, treten wir weiterhin auf der Stelle und verlieren international immer mehr den Anschluss im IT-Sektor, denn die digitale Uhr tickt immer schneller, die Zeit läuft uns exponential davon. Das kann sich eine Bildungs- und Industrienation nicht leisten, die Welt ist nun einmal digital und sie wird immer weiter digitalisiert werden. Beruflicher Erfolg ohne fundierte digitale Kompetenzen wird zunehmend unwahrscheinlicher werden. Auf diese digitale Zukunft, beruflich wie privat, müssen wir unsere Kinder optimal vorbereiten!