Das Corona-Update zur Medienerziehung
Unter Pandemiebedingungen hat die tägliche Onlinezeit von Kindern und Jugendlichen nochmals deutlich zugenommen. Das erklärt sich einerseits durch die monatelangen Schulschließungen, und andererseits durch die Einschränkungen anderer Freizeit- und Kontaktmöglichkeiten.
Durch den Distanzunterricht waren zudem deutlich mehr Schulkinder täglich online als zuvor, auch solche, deren Eltern bis dahin die Bildschirmzeiten ihrer Kinder bewusst begrenzt und kontrolliert hatten. Für Eltern war es unter diesen Bedingungen kaum noch möglich, zuverlässig zu unterscheiden, ob die Bildschirmnutzung der Kinder schulischen oder privaten Zwecken diente.
Daraus resultierten zwei wesentliche Problemfelder: Zum einen nahm dadurch das Potential für digitale Eskalationen unter den Kindern und Jugendlichen deutlich zu, zum anderen hatten es Kriminelle, insbesondere Pädophile Täter, deutlich einfacher, sich online ihrer Zielgruppe nähern. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik hat die Anzahl der angezeigten sexuellen Übergriffe auf Kinder (Cybergrooming) unter der Pandemie um volle 50 % zugenommen!
Laut einer Umfrage des IFO-Instituts reduzierte sich die tägliche Lernzeit von Schülerinnen und Schülern im Frühjahr 2020 um 3,8 Stunden auf 3,6 Stunden, während der private Bildschirmkonsum um 1,3 Stunden auf 5,2 Stunden stieg.
Laut einer Erhebung der DAK nahm in diesem Zeitraum die Nutzung von Videospielen an Wochentagen um 75 % zu, die Nutzung von Social Media um 66 % (https://www.dak.de/dak/gesundheit/dak-studie-gaming-social-media-und-corona-2295548.html).
Auch laut der jährlich durchgeführten JIM-Studie haben die Bildschirmzeiten im Coronajahr nochmals drastisch zugenommen: Mädchen kommen an Schultagen auf durchschnittlich 7:16 Stunden (2019: 5:25), Jungen sogar auf 7:42 Stunden (2019: 5:57). Die spontane Hoffnung, das erkläre sich durch den Onlineunterricht, erfüllt sich nicht: Von den 258 Minuten (+53 Minuten) täglicher Onlinezeit wurden nach Angaben der Jugendlichen nur 11% (2019: 10%) auf Informationssuche verwandt, also gerade einmal 28 Minuten – ein Plus von nur 6 Minuten gegenüber 2019! Die Erklärung meiner eigenen Schülerinnen und Schüler: Es ist während des Onlineunterrichts – bei dem man ja aus Datenschutzgründen nicht gezwungen werden kann, die Webcam einzuschalten – „einfach zu einfach“ sich abzulenken und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Bei den Jungen bedeutet das v.a. Gaming mit Freunden bei gleichzeitiger Kommunikation per Discord u.ä., Mädchen tauchen eher in Social Media ab.
Mehr Grund zur Beunruhigung als die reinen Bildschirmzeiten geben allerdings Aussagen von Kindern und Jugendlichen, dass sie Videospiele und Social Media als Kompensation für den „Coronafrust“ brauchen – ein klassischer Mechanismus in der Anbahnung von Suchtverhalten.
Verantwortlich für die deutliche Steigerung sind hauptsächlich die Nutzung von Videospielen, mit denen Mädchen laut JIM-Studie (www.mpfs.de) an Schultagen 81 Minuten (+38) verbringen, Jungen satte 159 Minuten (+43), und der TV-Konsum: Mädchen 140 Minuten (+26), Jungen 135 (+35). Dazu kommt die Nutzung von Streamingdiensten wie Netflix im Umfang von 114 Minuten. Dass schulische Leistungen unter solch exorbitanten Bildschirmzeiten leiden, ist offensichtlich, und es ist sicher kein Zufall, dass Jungen seit Beginn der 90er Jahre hinsichtlich Schulabschlüssen und Durchschnittsnoten gegenüber den Mädchen deutlich an Boden verloren haben: Während damals Jungen und Mädchen noch gleichauf lagen, sind heute zwei Drittel der Sitzenbleiber und Schulabbrecher Jungen, nur jeder dritte Junge erhält noch eine Gymnasialempfehlung und bei den Abiturabschlüssen liegen die Mädchen aktuell (Abitur 2019) mit 55 % und einer deutlich besseren Durchschnittsnote klar vorne! Eine andere Ursache für diese Entwicklung außer dem Bildschirmkonsum kenne ich nicht. Weder ist Schule seit den 80ern mädchenfreundlicher geworden, noch benoten Lehrerinnen, deren Anteil in den Schulen deutlich gestiegen ist, Jungen schlechter als Lehrer.
Für Eltern wurde es durch die Schulschließungen und die drastische Zunahme von Onlineunterricht noch deutlich schwieriger, die Bildschirmzeiten ihrer Kinder zu kontrollieren, da sich weder dauerhaft noch zuverlässig kontrollieren lässt, womit der Nachwuchs seine Bildschirmzeit verbringt – Videokonferenz Chemie oder doch (nebenbei) eine Runde „Fortnite“ oder „Among us“.
Im Zuge der vermehrten Onlinezeit hat laut der JIM-Studie auch Cybermobbing deutlich zugenommen: 38 % der 12-19jährigen (2019: 31%) haben in ihrem Umfeld mitbekommen, dass jemand im Internet absichtlich fertig gemacht wurde. 29 % (2019: 20 %) geben an, dass falsche oder beleidigende Dinge über sie online verbreitet wurden, das bedeutet eine Zunahme von 45 %. 11 % (2019: 8%) wurden nach eigenen Angaben schon einmal selbst „online fertig gemacht – das entspricht einer Zunahme von 37,5 % gegenüber 2019! Da die Gefahr, dass Konflikte eskalieren, grundsätzlich erheblich größer ist, wenn sie nicht persönlich, sondern online ausgetragen werden, ist das wenig überraschend. Auch an meiner eigenen Schule hatte ich seit Beginn des laufenden Schuljahres mit deutlich mehr digitalen Eskalationen zu tun als zuvor. Coronaspezifisch sind zahlreiche Vorfälle, in denen Onlineunterricht heimlich mitgefilmt und in Social Media gepostet werden, klare Straftaten nach §201 und §201a StGB, Recht am eigenen Bild etc.
Umso wichtiger wären aufklärende, präventive Maßnahmen, diese sind aber aktuell durch die Coronaeinschränkungen stark beeinträchtigt. Ein entsprechender Rechtshinweis in einer Einverständniserklärung zum Onlineunterricht erzielt nicht annähernd den Effekt einer Unterrichtsstunde zum Thema Datenschutz und Privatsphäre. Der Klassiker bei solchen Vorfällen: „Echt, das stand da drin…? Hab ich gar nicht gelesen…“.
Verstärkt haben sich zudem auch negative gesundheitliche Effekte durch zu wenig Bewegung und zu viel Sitzzeit vor Bildschirmen: Etwa jedes 10. Kind hat unter der Pandemie zugenommen, und die Häufigkeit psychischer Erkrankungen (Depression, Magersucht, Bulimie, Videospielsucht) ist bundesweit um 20% gestiegen.
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/kinder-corona-111.html
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie warnte bereits vor einer Überlastung der Praxen. Allerdings hat sich der Anteil der depressiven Erkrankungen in den 10 Jahren vor der Pandemie bereits verdoppelt, die Coronaumstände dienten als zusätzlicher Verstärker dieser Tendenz. Ebenso war schon vor der Pandemie jedes siebte Kind übergewichtig.
Fazit: Es gibt eine Menge aufzuarbeiten, das wird aber nicht ohne eine erhebliche Aufstockung des medienpädagogischen, sozialpädagogischen und schulpsychologischen Personals funktionieren!