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Jungen, Videospiele und Schulerfolg

Videospiele statt Bildung?

Der Zusammenhang zwischen übermäßigem Bildschirmkonsum und Schulversagen ist seit Jahren ein wesentlicher Aspekt in meinen Veranstaltungen und wurde auch auf dieser Website bereits in diversen Beiträgen angesprochen. Anlass für den vorliegenden Artikel ist eine Aussage von Dr. Monique R. Siegel, einer bekannten Zukunftsforscherin und Wirtschaftsethikerin, die sich am 8. Mai 2015 in ihrer Keynote bei einer Veranstaltung von Business Professional Women in Wiesbaden ganz unverhohlen darüber freute, dass Frauen weltweit beruflich auf dem Vormarsch seien – selbst in muslimischen Ländern – weil viele Jungen und junge Männer inzwischen Videospiele wichtiger nähmen als Bildung!

Eines vorweg: Ich mag Videospiele! Mit meinen Kindern habe ich schon vor Jahren Computerspiele wie „Die Siedler“ über Netzwerk gespielt (was laut JIM-Studie 2011 nur zwei Prozent aller Eltern tun) und vor kurzem haben mich einige meiner Achtklässler in ihren Clan bei „Clash of Clans“ eingeladen. Ich halte mich allerdings für alt (sichtbar…) und souverän (zumindest meistens…) genug, um rational abwägen zu können, wieviel Zeit ich in dieses Vergnügen investieren kann – bei meinen Schülern bin ich mir da weniger sicher und meinen Kindern, insbesondere meinem Sohn, konnte ich diese Entscheidung früher auch nicht überlassen, denn sie konnten selbst dem geschickt konstruierten Belohnungskonzept simpler Run&Jump-Spielchen wie „Tony Tiger“ (aus einer Cornflakes-Packung) nicht ernsthaft wiederstehen. Geduld und Impulskontrolle, die Beherrschung des „inneren Elefanten„, wie es der US-Psychologe Jonathan Haidt bezeichnet, sind keine angeborenen Fähigkeiten, sie müssen von Kindern bis zum Ende der Pubertät erlernt werden – danach ist das Zeitfenster für diesen Entwicklungsprozess geschlossen. Diese Beobachtung deckt sich mit einer Studie von Weis/Cerankoski aus dem Jahr 2010, die zeigte, dass Grundschuljungen die Hausaufgaben in der halben Zeit erledigen, sobald sie eine Spielekonsole besitzen und wenn dafür keine klaren Regeln aufgestellt werden. Nach nur 4 Monaten waren diese Schüler gegenüber einer Vergleichsgruppe ohne Spielekonsole in ihren Lese- und Schreibfertigkeiten deutlich ins Hintertreffen geraten, und sie hatten deutlich mehr Probleme in der Schule wegen schlecht oder nicht erledigter Hausaufgaben. Die Jungen hatten in dieser Zeit täglich ca. 40 Minuten an der Konsole gespielt. Die Ansage „Wenn du die Hausaufgaben erledigt hast, darfst du am PC/an der Konsole spielen“ hätte bei meinem eigenen Sohn im Grundschulalter sicherlich auch dazu geführt, dass er die Hausaufgaben in Rekordzeit und entsprechend schludrig erledigt hätte, um möglichst schnell spielen zu können.

Geregelte Bildschirmzeiten statt Abstinenz

Anstatt aber nun Videospiele komplett aus dem Leben von Kindern zu verbannen, wie manche digitale Hardliner überspitz(er)t fordern, gibt es einen pragmatischen und aus meiner Sicht deutlich sinnvolleren Ansatz über Regelsetzungen: Die Konsole steht zur besseren Kontrollierbarkeit nicht im Kinderzimmer, und es werden Spielzeiten festgelegt, die nicht mit den Hausaufgaben kollidieren, zu bestimmten Uhrzeiten (z.B. erst ab 17 Uhr) an bestimmten Tagen . Schwer kontrollierbar werden solche Vorgaben allerdings bei mobilen Geräten wie Smartphones und tragbaren Konsolen (iPod Touch, PlayStation Portable/Vita, GameBoy, etc.).

Zurück zu Frau Siegels Keynote: Die Entwicklung der Abiturabschlüsse in den letzten 25 Jahren passt leider zu ihrer These und laut JIM-Studie 2014 verbringen Jungen tatsächlich mit 105 Minuten pro Schultag aktuell durchschnittlich eine Stunde mehr mit Videospielen als Mädchen (48 Minuten). Auf ein Schuljahr gerechnet, summiert sich das auf über 220 Stunden! Fünf Prozent dieser Jungen spielen an Schultagen sogar durchschnittlich mehr als vier Stunden! Am Wochenende steigt der Spielekonsum der Mädchen moderat auf 57 Minuten, bei den Jungen explodiert er auf durchschnittlich 152 Minuten! Videospiele sind mit großem Abstand die zeitaufwändigste Freizeitaktivität der Jungen – eine andere Freizeitbeschäftigung in diesem Umfang von zwei Stunden täglich findet man nur sehr vereinzelt bei jugendlichen Leistungssportlern oder Musikern. Die gesamte Bildschirmzeit (Fernseher, Computer, Konsolen, Handys) deutscher Jugendlicher an Schultagen beziffert die JIM-Studie 2014 übrigens auf 5:43h bei Mädchen und sogar 6:37h bei Jungen – in beiden Fällen deutlich mehr Zeit, als sie in der Schule verbringen! Die Differenz von 54 Minuten kommt durch die höhere Spielzeit der Jungen zustande, siehe oben. Der Bildschirmkonsum korreliert dabei mit dem Bildungsniveau: Gymnasiasten haben durchschnittlich erheblich geringere Bildschirmzeiten als Hauptschüler. Als Faustregel für maximalen Bildschirmkonsum empfehle ich übrigens eine Wochenstunde pro Lebensjahr, bei 14jährigen sind das also immerhin zwei Stunden täglich – die Umfragewerte aus der JIM-Studie liegen allerdings dreimal so hoch!

Die allgegenwärtige digitale Versuchung

Jungen waren schon immer deutlich empfänglicher als Mädchen für Ablenkungen von lästigen Dingen wie Hausaufgaben oder Lernen für Klassenarbeiten. Doch die permanente Verfügbarkeit digitaler Ablenkungen ist mit nichts vergleichbar, was Kinder vor 30 Jahren spannender fanden als Hausaufgaben, und viele Jungen, denen von ihren Eltern keine klaren Zeitlimits gesetzt werden, können dieser Versuchung nur sehr schwer widerstehen. Für Videospiele braucht man zudem weder einen Bolzplatz noch gutes Wetter noch Mitspieler, man kann sich damit stundenlang ermüdungs- und schmerzfrei die Zeit vertreiben, und sobald Konsolen und Computer im Kinderzimmer stehen, ist elterliche Kontrolle nur noch begrenzt möglich – dort werden sie folglich doppelt so viel genutzt wie im Wohnzimmer!

Populäre Games vs. Lernsoftware

Bedauerlicherweise bringen die meisten populären Games für die Schule so gut wie nichts, während pädagogisch wertvolle Lernsoftware gegen die beliebten Blockbusterspiele, deren Entwicklungskosten oft in zweistelliger Millionenhöhe liegen, kaum eine Chance hat, denn einerseits wird in die Entwicklung dieser Spiele vergleichsweise lächerlich wenig Geld investiert, zum anderen sind Lernspiele manchmal auch noch geradezu widersinnig konzipiert, so dass Lerninhalte den Spaß am Spiel eher verderben als unterstützen. Wenn man etwa ein Rollenspiel nicht weiterspielen kann, weil man eine darin enthaltene Physikaufgabe nicht lösen kann, führt das ziemlich sicher zu einer negativen Haltung gegenüber dem Fach Physik, ein Effekt der dann auch noch besonders bei schwächeren Schülern auftritt! Fragt man Jungs nach beliebten Spielen, von denen man in der Schule profitiert, wird es still im Raum, und während „Super Mario“ die Verkaufsliste bei Amazon anführt, dümpelt „Addy Mathe“ auf Rang Zehntausendirgendwas…

Gruppendruck und Schlafmangel

Eine weitere, wenig schulkompatible Nebenwirkung von Videospielen ist Schlafmangel, wenn in Teams (Clans, Gilden…) gespielt wird, in denen erwartet wird, dass man auch spät nachts für Kampagnen gegen andere Teams zur Verfügung steht. In diesen virtuellen Cliquen herrscht ein hoher Gruppendruck, denn wer sein Team mehrmals bei nächtlichen Aktionen im Stich gelassen hat, läuft Gefahr, aussortiert und ersetzt zu werden.

Bildschirmkonsum und Gedächtnisleistung

Weiterhin gibt es ungünstige Effekte von Bildschirmkonsum auf die Gedächtnisleistung: Fernsehen oder Viedospielen direkt nach der Schule („zur Entspannung“) überschreibt einen Teil der Inhalte im Kurzzeitgedächtnis, also das während des Schultags Gelernte. Wer sich anschließend an die Hausaufgaben setzt, hat damit mehr Probleme, als wenn er sich direkt daran gemacht hätte. Punkt zwei: Die wichtigste Lernphase des menschlichen Gehirns ist die erste Schlafphase, hier sortiert das Gehirn unwichtige Daten aus und speichert wichtige im Mittel- und Langzeitgedächtnis. Da das Gehirn mit Emotionen möglichst vielen Sinneseindrücken verknüpfte Inhalte grundsätzlich als wichtiger einstuft, haben Videospiele oder auch spannende Filme ein erhebliches Potential, vergleichsweise unspektakuläre Lerninhalte wie Englischvokabeln oder Matheformeln regelrecht aus dem Gedächtnis zu verdrängen, insbesondere wenn man sich nach dem Lernen und vor dem Zubettgehen damit beschäftigt. Umgekehrt lassen sich diese Effekte zum effektiven Lernen nutzen: Aus meiner persönlichen Erfahrung als Musiker kann ich sagen, dass ich mir Songtexte sehr gut einprägen kann, wenn ich mich am Abend damit beschäftige oder sie sogar im Bett noch einmal durchgehe. Wenn ich dagegen von der Bandprobe nach hause komme, noch einmal den PC anwerfe und ein paar Mails beantworte, landen eher die Mails im Gedächtnis als die Songtexte. Und an dieser Stelle tritt dann noch ein weiterer Effekt auf: LED-Bildschirme strahlen ein langwelliges, bläuliches Licht mit einem hohen Tageslichtanteil aus und verhindern somit die Bildung des Schlafhormons Melatonin. Wer also direkt vom PC, Laptop, Tablet oder Handy ins Bett geht oder sich gar im Bett noch mit LED-Bildschirmen beleuchtet, provoziert damit Einsschlafstörungen.

Die Schulkrise der Jungen

Abitur und Spielekonsolen 1990-2014Fakt ist, dass die schulischen Leistungen von Jungen seit Beginn der 90er Jahre signifikant nachgelassen haben. Das Abitur legen heute nicht nur deutlich weniger Jungen ab als Mädchen, sie erzielen dabei auch deutlich schlechtere Durchschnittsnoten, was sich am Studiengang Medizin deutlich ablesen lässt, in dem mittlerweile 70 % der Studierenden weiblich sind.

Eine Gymnasialempfehlung bekommt inzwischen nur noch ein Drittel der Jungen, bei den Mädchen sind es dagegen 41 %. Sogar zwei Drittel der Sitzenbleiber und Schulabbrecher sind Jungen. Laut der OECD Studie „The ABC of Gender Equality in Education“ von 2015 sind 60 % der schwachen Schüler in der OECD mittlerweile männlich. Die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen führen die Autoren der Studie nicht auf angeborenes (Un)Vermögen, sondern durch eine erworbene Haltung gegenüber der jeweiligen Materie, der Schule, beziehungsweise dem Lernen zurück: Mädchen investieren deutlich mehr Zeit in Hausaufgaben und lesen mehr als Jungen, die stattdessen wesentlich mehr Zeit mit Videospielen und im Internet verbringen.

Zu viele Lehrerinnen und fehlende Väter?

Diskutiert man mögliche andere Ursachen als Medienkonsum für diese Schulkrise der Jungen, werden immer wieder zwei Argumente angeführt: Zum einen der steigende Anteil weiblicher Lehrkräfte in den Schulen, zum anderen die zunehmende Zahl von Jungen, die in Trennungssituationen ohne Vater aufwachsen. Das erste Argument wird von zahlreichen Studien widerlegt, die keinen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Lehrkraft und der Benotung von Mädchen und Jungen finden konnten. Und träfe das zweite Argument zu, hätte sich dieser Zusammenhang auch bei der Nachkriegsgeneration zeigen müssen, in der ein weitaus höherer Jungenanteil mit alleinerziehenden Müttern aufwuchs, ohne dadurch schulisch ins Hintertreffen zu geraten.

Die Pseudo-AD(H)S-Epidemie

Ins Mosaik des männlichen Schulversagens fügt sich die Tatsache, dass sich ADS- und ADHS-Diagnosen im Lauf der vergangenen zwei Jahrzehnte verfünfzigfacht haben, wobei der Anteil der Jungen laut dem deutschem Ärzteblatt hier bei 80% liegt.

TK2014 - Extremsurfer ADHSDa biologische Ursachen offensichtlich ausgeschlossen werden können, kann es sich nur um ein erlerntes Verhalten handeln, dass die Aufmerksamkeitsspanne vieler Jungen drastisch verkürzt hat. Die Technikerkrankenkasse führte im Herbst 2014 eine aufschlussreiche Umfrage durch, bei der einerseits Eltern gefragt wurden, ob sie ihre Kinder als Normalsurfer oder Extremsurfer einstuften, und andererseits diverse gesundheitliche Probleme abgefragt wurden. Das eindeutige Ergebnis: Als Extremsurfer eingestufte Jugendliche klagen fast dreimal so häufig über Konzentrationsstörungen wie gleichaltrige Normalsurfer, obwohl in dieser Statistik (leider!) nicht nach Jungen und Mädchen differenziert wurde.

Wie in der JIM-Studie 2014 zeigen sich auch in der TK-Studie eklatante Unterschiede im Lern-, Lese- und Videospielverhalten von Jungen und Mädchen: „Computerspiele sind dagegen eher ein Jungsthema. 87 Prozent spielen am PC oder an der Konsole, bei den Mädchen ist es nur gut die Hälfte. Sie verwenden dagegen mehr Zeit auf Hausaufgaben und mit 73 Prozent lesen Mädchen deutlich mehr als Jungen, von denen 43 Prozent freiwillig kein Buch in die Hand nehmen.“

Langeweile ist unerträglich

Meine These: Durch übermäßigen Internet- und Spielekonsum wird eine ganz andere Art von Aufmerksamkeit trainiert und da diese Vielspieler, die auch bei jeder Gelegenheit auf mobilen Geräten spielen, Langeweile überhaupt nicht mehr kennen und entsprechend schlecht damit umgehen können, fällt es ihnen umso schwerer, sich in Unterrichtsphasen zu konzentrieren, bei denen sie ohne eigene Aktivität und Initiative auch nur 10-15 Minuten aufpassen und zuhören müssen. Sie lassen sich extrem leicht ablenken, beschäftigen sich mit anderen Dingen oder stören den Unterricht. Interessanter Weise können sich solche Pseudo-AD(H)S-Kandidaten aber vor Bildschirmen stundenlang konzentrieren und lassen sich durch nichts ablenken. Die Verschreibung von Ritalin (Methylphenidat) und ähnlichen Präparaten hilft diesen dann auch entsprechend wenig, weil die AD(H)S-typische Stoffwechselstörung, die diese ausgleichen sollen, gar nicht vorliegt, das Problem sind vielmehr Defizite in Geduld und Impulskontrolle. Die heftigen Nebenwirkungen dieser Medikamente schlagen aber bei diesen Jungen ebenso ein wie bei echten AD(H)S-Patienten.

Ein intensives Konzentrationstraining (z.B. auch Schach spielen, Lernen eines Musikinstruments, etc.) verbunden mit einer Einschränkung der Spielzeiten auf einen vernünftigen Umfang ist bei diesen Betroffenen daher sinnvoller, hilfreicher und v.a. auch deutlich gesünder als die Verabreichung von Psychopharmaka.

Klare Regeln können Schulkarrieren retten

Fazit: Trotz der oben dargestellten Probleme gibt es keinen Anlass, Videospiele, Konsolen und Computer in Grund und Boden zu verteufeln und radikal zu verbieten – es sind aber klare Regeln und elterlicher Einfluss erforderlich, um zu verhindern, dass der Spielspaß zum Schulkiller wird. Die Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen sollte grundsätzlich vielfältig und mit ausreichend Bewegung verbunden sein. Sie sollten viele unterschiedliche Aktivitäten ausprobieren, um Stärken, Schwächen und Interessen herausfinden zu können und dabei die Chance auf echte Erfolgserlebnisse haben, die den entscheidenden Schlüssel zur Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls darstellen. Dabei sollte Bildschirmzeit nur eine von vielen Aktivitäten sein, aber keinesfalls die dominante oder gar die einzige, denn Bewegung ist einer der wichtigsten Entwicklungsreize bei Heranwachsenden. Mit den oben aufgeführten täglichen Bildschirmzeiten ist ein vernünftiges Maß allerdings bei Jungen wie Mädchen bereits weit überschritten.

Wer feststellt, dass die schulischen Leistungen des Kindes nachlassen, sollte einen kritischen Blick auf den Bildschirmkonsum werfen und diesen so reglementieren, dass die oben beschriebenen negativen Effekte nicht auftreten. In manchen Fällen kann es durchaus angebracht sein, zumindest für eine gewisse Zeit Videospiele nur noch am Wochenende zu erlauben – eine Mutter erzählte mir kürzlich, sie habe die Versetzung ihres Sohnes in die 10. Klasse gerettet, indem sie seine PlayStation zum 50 km entfernnt wohnenden Vater verfrachtet hatte… 😉

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