AllgemeinElternLehrerSchüler

Privatsphäre und Datenschutz im Unterricht – eine kurze Geschichte des Internets

Meine Onlinevita: Mit Anfang 30 ging ich 1992 zum ersten Mal mit „BTX“ (Bildschirmtext) online, dazu musste ich mich bei der Deutschen Post anmelden. Die sehr überschaubaren Inhalte lagen allesamt auf einem zentralen Server von IBM. Die Einwahl per Modem lief mit 2400 Bits pro Sekunde über die Telefonleitung – mein heutiger Netzzugang ist ca. 100.000 mal schneller! Als ich mich 1994 erstmals über „Compuserve“ mit dem Ur-Browser „Mosaic 1.0“ ins WWW einloggte, war das Web 1.0 auf rein passive Nutzung ausgelegt, Websites waren statisch. Ein paar Jahre später kamen textbasierte Internetforen dazu, in denen man sich zu bestimmten Themen austauschen konnte. Upload von Fotos, Musik und Video war schon wegen der Leitungsgeschwindigkeit Utopie, „Social Media“ unbekannt. Die Menge sensibler, persönlicher Daten, die man im Netz hinterlassen konnte, war sehr gering.

Ich konnte meine Onlinekompetenz mit dem Netz entwickeln und so über viele Jahre den Umgang damit lernen. In reinen Textforen konnte man bereits Erfahrungen mit bizarren Zeitgenossen sammeln, die hinter ihren Nicknames sämtliche Hemmungen fallen ließen.

1998 ging Google an den Start und verdrängte im Handumdrehen die alten Suchmaschinen. Das „Web 2.0“ wurde Anfang der 2000er v.a. durch die Weiterentwicklung der Skriptsprache PHP und deren Verbindung mit MySQL-Datenbanken ins Leben gerufen, das Netz wurde exponentiell interaktiver und multimedialer und plötzlich hatte jeder Privatmensch die Möglichkeit, Inhalte ins Netz zu stellen und mit anderen zu interagieren.

Unsere Schulwebsite hatten schon damals durch ein vielgenutztes Forum und einen Chat ca. 30.000 Besuche pro Monat. Alle Mitglieder der Schulgemeinde konnten dort persönliche Accounts anlegen, prompt hatten wir auch die ersten Vorfälle hinsichtlich Datenschutz, Privatsphäre und Mobbing und mussten das anfänglich offene Forum schon nach kurzer Zeit auf Registrierungspflicht umstellen.

„Social Media“ bekam 2005 einen gewaltigen Impuls durch YouTube, das schon ein Jahr später von Google aufgekauft wurde (1,3 Mrd. €, ein echtes Schnäppchen!), im selben Jahr startete auch Facebook, 2007 stellte Steve Jobs mit dem iPhone das erste iPhone mit Touchscreen vor.

Als mir im Frühjahr 2007 ich ein rasanter Abfall der Zugriffe auf die Schulwebsite auffiel, fand sich in der Statistik der Website die Ursache dafür: Das neue SchülerVZ zog unsere Klientel ab! Innerhalb kürzester Zeit verzeichnete diese Plattform über 100 Millionen monatliche Besuche!

Als meine damals 14jährige Tochter fragte, ob sie sich da anmelden dürfe („Papa, alle sind da plötzlich drin!“) und ob das überhaupt sicher sei, sahen wir uns das SVZ zusammen an und stellten fest, das sämtliche Privatsphäreeinstellungen auf „öffentlich“ voreingestellt waren – was heute immer noch bei sämtlichen US-Amerikanischen App-Anbietern Standard ist.

Ich setzte mich prompt mit dem Jugendschutzbeauftragten des SVZ in Verbindung, dessen Antwort sich damals las wie die AGB der aktuellen Social-Media-Anbieter, denen es bei insbesondere für Kinder kritischen Einstellungen natürlich immer nur um „die Verbesserung des Benutzererlebnisses“ geht:
„Für die standardmäßige Einstellung des offenen Profils haben wir uns entschieden, weil der Grundgedanke eines Social Networks natürlich die Vernetzung ist und diese durch die Einblickmöglichkeit in ein Profil erheblich erleichtert wird.“ Das Problem, dass solche Einblicke u.a. auch eine Steilvorlage für Pädophile darstellen, spielte er herunter, damals wie heute eine kapitale Fehleinschätzung. Die Anzahl der angezeigten Fälle von Cybergrooming – sexuelle Onlineübergriffe Erwachsener auf Kinder – hat sich seit 2009 inzwischen verzehnfacht, das Dunkelfeld ist immens. Die Entwicklung in der polizeilichen Kriminalstatistik korreliert frappierend mit der zunehmenden Smartphoneausstattung von 12/13jährigen (erfasst in den JIM-Studien seit 2010). Bei Kindern beliebte Apps haben es Pädophilen noch viel leichter gemacht, sich ihrer Zielgruppe zu nähern.

Zurück zum SVZ: Nach der Intervention von Landesdatenschutzbeauftragten wurden die Voreinstellungen auf „Nur meine Freunde“ geändert und entsprachen damit den Anforderungen des deutschen Datenschutzgesetzes. In den USA gibt es dagegen bis heute kein solches Gesetz, das Anbieter zu Datenschutz verpflichtet!

Nach der Einrichtung des Accounts meiner Tochter und der Anpassung der Privatsphäreeinstellungen sahen wir uns zusammen auf der Plattform um und fanden mithilfe der Funktion „Super-Suche“ in wenigen Minuten heraus, dass fast jeder zweite Account öffentlich einsehbar war und in einer schulinternen Umfrage zum SVZ gaben nur 16% der Befragten an, dass ihre Eltern genau wüssten, was sie im Internet tun – diese Quote hat sich bis heute nicht verbessert, denn Smartphones in Kinderhänden sind kaum zuverlässig zu kontrollieren…

Daraufhin genehmigte mir die Schulleitung für jede Jahrgangsstufe von 5 bis 11 eine Doppelstunde in der Aula zum Thema: „Sicherheit im SchülerVZ“. Die Erwartungshaltung der Kids im Vorfeld war klar und wurde mir über meine beiden Kinder auch zugetragen: „Was will der uns schon erzählen?!“ Der Effekt von 90 Minuten Vortrag zum Thema Privatsphäre, Datenschutz, Pädophile, Cybermobbing, Recht am eigenen Bild, Passwortsicherheit etc. war jedoch auch für mich verblüffend: Bereits am Tag danach war die Quote der offenen Profile auf 14% gefallen – Mission erfüllt! Über meine Kinder kam jetzt ganz anderes Feedback an: „Wow, dein Dad hat ja voll die Ahnung!“ Pausenaufsichten verbrachte ich ab diesem Zeitpunkt mit der Beantwortung von Internetfragen, ich wurde Anlaufstelle für Onlineprobleme aller Art – und mein Schulleiter erklärte mich kurzerhand zum Jugendmedienschutzbeauftragten der Schule. Damit war ich der wohl erste deutsche Lehrer in dieser Funktion und mir war dank dieser Veranstaltungen schlagartig bewusst, welches gewaltige Defizit schon damals in den meisten Familien in Sachen Medienerziehung bestand.

Zum „Einstand“ bekam ich von meinem Chef dann eine zweistündige Gesamtkonferenz „geschenkt“, in der ich das Kollegium zum Thema Jugendmedienschutz fortbilden durfte, mit ebenfalls genervter Resonanz im Vorfeld („Macht jetzt bald jeder seine eigene GeKo?“), aber mit hohem Aha-Effekt danach.

Schließlich organisierte der Schulelternbeirat noch einen Elternabend für die Klassen 5-9, weil Eltern schließlich die Hauptverantwortung in Sachen Medienerziehung zukommt und wir Lehrkräfte keinen Einfluss auf die häusliche, insbesondere die nächtliche Mediennutzung haben. Wir wollten die Eltern für die Problematik sensibilisieren, ihnen v.a. auch das A und O des SchülerVZ und dessen kritische Bereich nahebringen – es erschienen nur 35 Eltern!

Zeitsprung nach 2020: Kein Kind kann sich heute das Internet nach und nach altersgemäß erschließen, wenn man ihm ein Smartphone überlässt, dieses nicht altersgemäß einschränkt und kontrolliert – und ihm v.a. die Gefahren der Onlinewelt nicht konsequent vermittelt. Das Internet ist ein Netz von Erwachsenen für Erwachsene, mit sämtlichen 18+ Inhalten wie Gewalt und Pornographie, mit Pädophilen, denen ahnungslose Kinder schutzlos ausgesetzt sind – doch die Mehrheit der Kinder wird mit dieser Welt völlig unvorbereitet allein gelassen. Stark unterschätzt werden in diesem Szenario die Datensammler, die in großem Stil Nutzerdaten abgreifen, um sie für maßgeschneiderte Werbung auszuwerten und zu verkaufen. Nicht nur Kinder, aber diese ganz besonders, haben keine Vorstellung davon, welche Mengen an sensiblen Daten sie online dauerhaft preisgeben. Dazu kommt, das sehr viele Eltern sensible Daten ihrer Kinder, insbesondere Kinderfotos, in sozialen Netzwerken posten, und damit deren digitales Datenkonto irreversibel vorbelasten.

Da den wenigsten Eltern dieses hochkomplexe Risikopotential bewusst ist, versäumen sie auch, ihren Kindern zu vermitteln, dass sie sich mit unangenehmen Onlineerlebnissen immer an ihre Eltern wenden können, ja müssen, da Schadensbegrenzung meist nur möglich ist, wenn sehr schnell reagiert wird. Aus Scham, Schuldgefühlen (die v.a. Pädophile Kindern sehr geschickt einreden) und v.a. der Angst, das Handy weggenommen zu bekommen, behalten viele Kinder aber negative Erfahrungen für sich. Immer wieder kommen Kinder mit ihren Onlineproblemen zu mir, die mir als erstes das Versprechen abringen wollen, ihren Eltern nichts davon zu erzählen!

Fazit: Kinder müssen ebenso intensiv auf die Onlinewelt vorbereitet und altersgemäß herangeführt werden wie an den Straßenverkehr oder die Nutzung von Werkzeugen. Da ein Großteil der Eltern mit dieser Aufgabe augenfällig überfordert ist, sollten Digitalbildung und Medienerziehung an den Schulen einen deutlich höheren Stellenwert erhalten, doch dem stehen zwei Probleme entgegen:

Zum einen sind Lehrkräfte in dieser Thematik nicht kompetenter als Eltern, da Medienpädagogik in der Aus- und Fortbildung immer noch ein fakultatives Randthema ist.

Zum anderen ist es eine unserer Kernaufgaben beim Thema Medienerziehung, Eltern für ihre Verantwortung in diesem Bereich zu sensibilisieren, da die Schule kaum Einfluss auf die private Medienausstattung und -nutzung der Kinder hat. Doch entsprechende Infoveranstaltungen sind sehr überschaubarem besucht.

Deutschland hat 27 Jahre nach dem Start des WWW immer noch kein wirksames Konzept für digitale Bildung und Erziehung, und der auf Hardware fokussierte Digitalpakt allein wird dieses Problem nicht lösen. Medienpädagogik müsste als Pflichtthema in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften integriert werden, und man sollte auch über die Option verpflichtender Elternabende (wie in der Schweiz) nachdenken. Zudem brauchen entsprechend digitalkompetente Lehrkräfte dann auch einen offiziellen Lehrauftrag inklusive ausgewiesener Unterrichtszeit, denn dieses eminent wichtige Thema lässt sich weder nebenbei noch als fächerübergreifende Aufgabe erfolgreich vermitteln. Letzteres würde voraussetzen, dass sämtliche Lehrkräfte einer Lerngruppe über entsprechende Digitalkompetenz verfügen, aber davon sind wir Terrabytes entfernt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Spamschutz * Das Zeitlimit ist abgelaufen. Bitte laden Sie die Spamschutzrechnung neu.