Lasst Kinder Autodidakten sein!
Warum hätte ich denn im Distanzunterricht was tun sollen? Es konnte ja keiner kontrollieren!
Ein Problem, dass mich schon seit meiner Studienzeit beschäftigt, in der ich meine Examensarbeit zum Thema „Förderung von Kreativität und Phantasie“ verfasste, wurde durch den Distanzunterricht während der Corona-Lockdowns überdeutlich: Wenn Kinder in unserem Schulsystem konsequent dazu erzogen werden, unter permanenter Aufsicht, Kontrolle und Druck von Lehrkräften und Eltern zu lernen, führt das unweigerlich zu großen Problemen, wenn sie bei Bedarf selbständig und eigenverantwortlich arbeiten sollen. Dass insbesondere Jungen damit zu kämpfen haben, wurde nach den Lockdowns offensichtlich: Sie zeigten vielfach erschreckend schwache Leistungen und wurden massenhaft „pädagogisch versetzt“, obwohl ihre Noten das formal gar nicht zuließen. Im Sommer 2020 gab es dazu eine Anweisung des Kultusministeriums, alle SchülerInnen ungeachtet ihrer Noten zu versetzen, in 2021 dann eine Empfehlung, mit pädagogischen Versetzungen großzügig umzugehen. In unseren 11. Klassen wurden zahlreiche Jungen auf diese Weise in die Oberstufe befördert – und kämpfen dort jetzt vielfach leistungsmäßig ums Überleben. Etliche haben bereits angekündigt, das Schuljahr freiwillig wiederholen zu wollen.
In England gibt es schon seit Jahrzehnten klare Erkenntnisse, dass SchülerInnen traditioneller Privatschulen, an denen traditionell mit hohem Leistungsdruck und strenger Leistungskontrolle agiert wird, anschließend an den Universitäten große Lernprobleme haben, wenn sie dort auf sich selbst gestellt sind und ihnen niemand mehr penibel vorschreibt, was sie wann zu tun haben – sie haben eigenständiges, selbstmotiviertes Lernen schlicht nicht gelernt.
Eine meiner persönlichen Konsequenzen daraus ist schon seit dem Referendariat, dass ich grundsätzlich keine Hausaufgaben kontrolliere (was ich nebenbei auch für eine immense Vergeudung wertvoller Unterrichtszeit halte), sondern mich bemühe, möglichst sinnvolle und interessante Hausaufgaben zu geben, die grundsätzlich auf die nächste Unterrichtseinheit vorbereiten. Wer diese Aufgaben nicht erledigt, kann im Unterricht nicht optimal mitarbeiten und wird von mir ggf. darauf angesprochen. Wer keine HA erledigt und trotzdem gute Mitarbeit zeigt, braucht diese Aufgaben offensichtlich nicht – warum also sollte er/sie eine schlechte Note und einen Elternbrief dafür bekommen? Ganz abgesehen davon, dass Hausaufgabendruck sehr häufig nur dazu führt, dass diese vor der Schule noch schnell von anderen abgeschrieben oder einfach per Messenger ausgetauscht werden, Lerneffekt gegen Null! Wenn SchülerInnen in Aufgaben keinen Sinn erkennen, ist das Ergebnis meist suboptimal, das ist ja bei Erwachsenen nicht anders.
Meinen eigenen Kindern habe ich dementsprechend von Anfang an erklärt, dass Schule ihr Job ist, nicht meiner, dass sie für ihre Leistungen selbst verantwortlich sind, sie sich ihre Ziele selber stecken sollen, dass ich nicht kontrolliere, ob sie ihre Hausaufgaben (ordentlich) gemacht haben, und dass ich ihnen bei den Aufgaben und beim Lernen nur helfe, wenn ich gefragt werde. Und v.a. auch, dass sie in erster Linie selbst mit ihren Leistungen zufrieden sein müssen, nicht Mama und Papa. Wir haben dementsprechend gute Leistungen auch nie mit Geld oder Geschenken belohnt, sondern mit Lob und Schulterklopfen, schwächere nicht mit Kritik und Druck, sondern mit Supportangeboten. Das hat bestens funktioniert.
Der altbekannte Spruch „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!“ ist nur eine konterkarierte Worthülse, wenn die Kids tagtäglich erleben, das exakt das Gegenteil Realität ist. Sieht man auf der anderen Seite, mit welcher Begeisterung und Geschwindigkeit sie sich Wissen eigenmotiviert und autodidaktisch aneignen, wenn sie sich für etwas ernsthaft interessieren, wird offensichtlich, was in unserem – seit dem 19. Jahrhundert nicht wesentlich veränderten – Schulsystem falsch läuft.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie in meiner eigenen Schulzeit meine Vorfreude auf Englisch, Physik und Chemie, mit denen ich mich zuvor privat begeistert befasst hatte, durch die angstbesetzte „Vermittlung“ in der Schule – in Kombination mit todlangweiligem Unterricht – innerhalb kürzester Zeit in „Hassfächer“ mutierte! Während ich zuhause aus eigenem Antrieb stundenlang englische Texte von Schallplatten und Kassetten heraushörte und mit meinem Elektronikbaukasten aufwendige Schaltungen baute (Morsegerät, Alarmanlage, Feuchtigkeitsfühler…) löste der Blick auf den Stundenplan konsequentes Unbehagen aus, wenn dort E, PH oder CH standen. Hätte nicht in der 7. Klasse eine neue Englischlehrerin mein Eigeninteresse erkannt und gefördert, und v.a. mehr auf Lob und Motivation als auf Tadel und Strafe gesetzt – ich wäre heute definitiv kein Englischlehrer. Anders herum würde ich vielleicht Physik und Chemie unterrichten, wenn der Unterricht hier anders gelaufen wäre. Immerhin hat es für ein bisschen Informatik gereicht, das ich mir komplett autodidaktisch angeeignet habe.
Der amerikanische Autor und Lehrer George B. Leonard überspitzte das in der sarkastischen Aussage:
Teachers are overworked and underpaid. True, it is an exacting and exhausting business, this damming up the flood of human potentialities. (aus: „Education and Ecstasy“)
Im Familienkreis erlebe ich gerade ein hochmotiviertes Kita-Kind, das sich begeistert den Schulstoff seiner älteren Schwester aneignet, stolz bis hundert zählt und das Alphabet kann. Als Highlight schrieb es seinen Namen spiegelverkehrt ans Fenster, damit die Leute ihn von draußen richtig lesen können!
Aber irgendwie schaffen wir es dann in den Schulen, diese hohe Eigenmotivation vieler Kinder auszubremsen, die dann oft nur noch bei Anlässen wie Projektwochen oder freiwilligen Aktivitäten wie Schulbands/Orchestern/Chören und anderen AGs zum Tragen kommt. Selbst in Fächern wie Musik und Sport gelingt es uns immer wieder, sogar SchülerInnen, die in ihrer Freizeit begeistert Instrumente spielen und Sport treiben, mit ständigen Leistungskontrollen, Druck und Unterricht ohne individuelle Spielräume den Spaß und die Motivation zu nehmen.
Es ist für mich auch immer wieder irritierend zu sehen, wie viele SchülerInnen damit überfordert sind und es langweilig finden, sich im Rahmen einer gelegentlichen freien Sportstunde in einer Sporthalle mit unzähligen Geräten und Bällen selbständig zu beschäftigen – weil sie es offensichtlich nie gelernt haben.
Sicherlich sind überfrachtete Lehrpläne, zu große Klassen, zu wenig Zeit und andere schulorganisatorische Aspekte Teil dieser Problematik, aber letztlich liegt es an uns Eltern und Lehrkräften, wie wir mit dieser Situation umgehen, um die Eigenmotivation von Kindern und Jugendlichen zu erhalten und zu fördern. Permanenter Druck ist dazu definitiv nicht geeignet. Er führt vielfach zu Vermeidungsstrategien und im schlechtesten Fall dazu, dass der Kessel irgendwann platzt, was sich häufig in Form von Angststörungen, Depressionen und autoaggressivem Verhalten zeigt – alternativ sucht sich der Druck Ventile in Alkohol, Drogen, exzessivem Gaming oder Social Media!
Gerade digitale Medien bieten zahlreiche motivierende Möglichkeiten, sich Wissen individuell und selbständig zu erschließen – das sollten wir uns in den Schulen ausgiebig zunutze machen.
Die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Alemannenschule in Wutöschingen ist eine der wenigen Schulen, die sich bereits auf diesen Weg gemacht und und die althergebrachten Vorstellungen von Schule entschlossen über Bord geworfen haben.
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