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Und täglich grüßt das digitale Murmeltier – 10 Jahre medien-sicher.de

Vor 10 Jahren fiel der Startschuss für meine Tätigkeit als „Fachberater für Jugendmedienschutz“ am Staatlichen Schulamt für Wiesbaden und den Rheingau-Taunus-Kreis. Ebenso lange ist diese Website online. Zeit für ein Resümee und einen Blick nach vorne:

Nachdem ich als Vertrauenslehrer und Internetbeauftragter der Gutenbergschule Wiesbaden schon 2004 den ersten Vortrag „Was macht mein Kind am PC?“ (eine grauenhaft textlastige PPT, nicht mehr vorzeigbar… 😀 ) vor dem Schulelternbeirat gehalten hatte, lernte ich 2008 bei einem Präventionselternabend zum Thema Internet die damalige Jugendkoordinatorin des Polizeipräsidiums Westhessen kennen. Mit ihr vereinbarte ich einen gemeinsamen Termin bei der damaligen Leiterin des Staatlichen Schulamts, Frau Ute Schmidt, der wir zwei Stunden lang vorstellen durften, was SchülerInnen – ohne Wissen ihrer Eltern – im Internet tun, und welche rechtlichen und persönlichen Konsequenzen damit verbunden sind. Thematisch ging es dabei v.a. um Privatsphäre/Datenschutz/sexuelle Übergriffe, jugendgefährdende Inhalte, Cybermobbing, schulische Probleme durch exzessive Nutzungszeiten, illegale Downloads, Abofallen und Virenschutz. Das damals beliebteste Social Network, das wir ebenfalls ausführlich vorstellten, war das deutsche „SchülerVZ“ (2012 abgeschaltet), zu dem ich im Oktober 2008 mit jeder Jahrgangsstufe der Gutenbergschule eine zweistündige Veranstaltung „Sicher im Netz“ gehalten hatte. Von Facebook (inzwischen bei Jugendlichen wieder komplett out) und Smartphones mit Apps war damals noch nicht die Rede, auch 2010 besaßen nur 14% der Jugendlichen ein Smartphone, WhatsApp war in Deutschland noch unbekannt.

Die Amtsleiterin war von der ungeahnten Dimension des Themas so beeindruckt, dass ich zum Schuljahr 2009/10 eine Abordnung von drei Wochenstunden als „Fachberater für Jugendmedienschutz“ des Schulamts erhielt, um als Multiplikator Lehrerfortbildungen und Elternabende zu diesem Thema zu halten. Um die Materialien zu diesen Veranstaltungen online zur Verfügung stellen zu können, richtete ich diese Website ein, die inzwischen ca. 10.000 monatliche Besucher verzeichnet.

Zudem legte Frau Schmidt mein Jugendmedienschutzkonzept, das ich im Gespräch vorgestellt hatte, der damaligen Kultusministerin Dorothea Henzler vor. Im Januar 2010 war ich dann zu einem Gespräch ins Kultusministerium eingeladen, bei dem mir eine Abordnung mit einer halben Stelle an das Ministerium angetragen wurde, um als JMS-Beauftragter des Landes Hessen dieses Konzept hessenweit umzusetzen.

So weit, so gut. Allerdings wurde mir dann direkt zu meinem Amtsantritt im August 2011 eröffnet, dass es für dieses Konzept leider keinen Etat gäbe! Schon der erste und grundlegende Schritt, an jedem der 15 staatlichen Schulämter in Hessen eine Fachberatung Jugendmedienschutz im Umfang von nur drei Entlastungsstunden einzurichten und diese KollegInnen zu MultiplikatorInnen auszubilden, war damit an einer jährlichen Summe von ca. 150.000 € gescheitert. Reichlich frustriert gab ich daraufhin zum Ende des Schuljahres diese Abordnung wieder auf, weil die Konzeption mit dem Endziel, an jeder weiterführenden Schule Jugendmedienschutzbeauftragte zu installieren, nicht einmal ansatzweise realisierbar war. Seitdem bin ich weiterhin Mitglied der AG Jugendmedienschutz im Kultusministerium und mit insgesamt 12 Wochenstunden Abordnung als Referent von Fortbildungen, Pädagogischen Tagen und Elternabenden für Schulamt und Ministerium unterwegs, muss aber nicht mehr versuchen, ohne Baumaterial ein Haus zu bauen.

Wenn ich auf diese 10 Jahre Medienerziehung und Jugendmedienschutz zurückblicke, grüßt in jeder Konferenz und jeder Veranstaltung zu diesem Thema das sprichwörtliche Murmeltier mit den Worten „Houston, wir haben ein Problem!“. Nicht dass sich in diesen 10 Jahren nichts bewegt hätte, im Gegenteil: Über 8000 hessische Lehrkräfte haben an meinen Fortbildungen teilgenommen, ca. 25.000 Eltern an Infoabenden. In Wiesbaden durchlaufen seit 7 Jahren alle ReferendarInnen das Pflichtmodul „Medienerziehung“. Ca. 200 hessische Lehrkräfte wurden seit 2013 in einer drei- bis viertägigen Ausbildung zu JugendmedienschutzberaterInnen qualifiziert. Peer-to-Peer-Konzept wie die „Medienscouts Rheingau“ und die „Digitalen Helden“ sind an ca. 150 (von ca. 1850) Schulen aktiv und erfolgreich. So weit, so gut – aber auch so schlecht: Denn während die Erwachsenenwelt versucht, mit bedächtigen Trippelschritten den Cyberspace irgendwie in den Griff zu bekommen, entwickelt sich die digitale Welt in einem unfassbar rasanten Tempo. Auch zehn Jahre später ist digitale Lehrerbildung bundesweit im Lehramtsstudium, im Referendariat und in der Lehrerfortbildung weiterhin nur eine fakultative Randnotiz.

Wer schon vor 10 Jahren den Eindruck hatte, dass die gerufenen digitalen Geister gar nicht mehr zu kontrollieren waren, steht heute vor einer ganz anderen Dimension von Herausforderung: Das deutsche SchülerVZ am PC wurde abgelöst von Smartphones mit Apps von fast ausschließlich US-amerikanischen Anbietern, für die Datenschutz ein Fremdwort ist. Was die JIM-Studie 2010 in Sachen Handybesitz von Jugendlichen auswies, wurde inzwischen 1 zu 1 durch Smartphones ersetzt. Immer jüngere Kinder werden von Eltern mit Smartphones ausgestattet, denen nicht bewusst zu sein scheint, dass sie ihren Kindern damit einen Hi-End-Computer mit Vollzugriff auf die komplette Erwachsenenwelt zur ständigen Verfügbarkeit in die Hand drücken. Und während immer krassere Inhalte über WhatsApp, Instagram, Snapchat und Co. unter den Kindern kursieren, haben immer mehr Eltern nicht den Hauch einer Ahnung davon, was sich auf den Smartphones ihrer Kinder alles abspielt. Auch sexuelle Übergriffe durch Pädophile, aber auch immer häufiger durch Gleichaltrige, haben noch einmal erheblich zugenommen, seit Minderjährige mit Smartphones online sind. Insbesondere eskalierte Sextingvorfälle mit Nacktaufnahmen von Minderjährigen haben seit 2012 rasant zugenommen. Im Bereich Cybergrooming, d.h. sexuelle Übergriffe auf Kinder unter 14 Jahren, beziffert die Polizei den Anteil der Täter, die selbst noch minderjährig sind, auf 40%!

Smartphones und Apps haben die Nutzung des Internets immer mehr vereinfacht, im Positiven wie im Negativen. Auch Cybermobbing hat durch die Hosentaschencomputer eine neue Dimension erreicht, denn noch nie war es so einfach, mit minimalem Aufwand eine maximale Anzahl an Empfängern zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, problematische Inhalte wieder aus dem Netz zu entfernen, ist damit endgültig bei Null angelangt.

Wer im Bereich Medienerziehung arbeitet, fühlt sich unweigerlich an die griechische Sagengestalt des Sisyphos erinnert, der einen Stein einen Berg hoch rollen musste, aber immer, wenn er den Gipfel fast erreicht hatte, rollte der Stein wieder bergab und Sisyphos musste von vorn beginnen. Doch im Gegensatz zum analogen Sisyphos bekommt sein digitaler Klon den Gipfel niemals zu Gesicht, da der Berg viel schneller wächst als er den Stein rollen kann.

Hätte man das Thema vor 10 Jahren entschlossen angepackt, stünden wir heute mit ganz anderen Voraussetzungen da: Die digitale Situation in Schulen und Familien wäre deutlich entspannter, und vielen SchülerInnen, Eltern und Lehrkräften wären unangenehme bis dramatische digitale Erlebnisse erspart geblieben. Das beste Beispiel dafür sind die zahllosen Vorfälle von eskaliertem Sexting unter SchülerInnen: In allen Fällen, bei denen ich beratend involviert war, stellte sich in den Gesprächen mit den beteiligten Kindern und Jugendlichen heraus, dass noch niemals jemand mit ihnen über die mögliche Dimension solcher Aktionen gesprochen hatte. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass Erziehung schließlich primär Aufgabe der Eltern und nicht der Schule ist. Aber eine eindeutige Erkenntnis meiner Arbeit ist, dass viele Eltern auch bei bestem Willen und Bemühen mit diesem hochkomplexen Thema schlicht überfordert sind – und das hängt nicht nur vom Bildungshintergrund ab!

Digitale Präventionsarbeit kann mit überschaubarem Aufwand unglaublich viel erreichen und manchmal tatsächlich lebensrettend wirken. An meiner eigenen Schule haben wir das Thema seit über 10 Jahren durch konsequente Präventionsarbeit mit SchülerInnen, Eltern und Lehrkräften bestens im Griff. Das heißt nicht, dass wir überhaupt keine digitalen Zwischenfälle verzeichnen – erst kürzlich habe ich einen Elternbrief zum Thema Pornosticker verfasst. Aber viele Dinge klären die Klassen unter sich, u.a. weil klare Regeln für den digitalen Umgang miteinander schon zu Beginn der Klassenstufe 5 vereinbart werden, und unsere Schulgemeinde reagiert bei digitalen Entgleisungen auch deutlich unaufgeregter als ich das andernorts erlebe. Manchmal muss sich die Klassenleitung einschalten, aber heftige Vorfälle, bei denen die Schulleitung eingreifen muss, gibt es fast gar nicht. Fälle, in denen die Polizei und/oder Anwälte involviert werden müssen, hatten wir seit Jahren nicht. Dagegen höre ich bei Fortbildungen immer wieder von Schulleitungen, dass sie permanent mit ernsthaften digitalen Konflikten zu tun haben.

Fazit: Es gibt also viel zu tun, und um dem stetig wachsenden Problem nicht weiterhin nur hinterher zu laufen, bis man endgültig den Anschluss verloren hat, müsste das Thema endlich entschlossen und flächendeckend mit einem Multiplikatorenkonzept angepackt werden, um an allen Schulen – und dazu gehören inzwischen unbedingt auch die Grundschulen – Lehrkräfte zu MedienberatungslehrerInnen zu qualifizieren, die für ihre Tätigkeit auch ausreichend Zeit zur Verfügung gestellt bekommen. Die dafür erforderlichen Investitionen betragen nur einen Bruchteil der Summen, die derzeit für den nicht wirklich zu Ende gedachten Digitalpakt zur Verfügung gestellt werden, und sie würden auch umgehend positive Wirkung zeigen. Prävention zahlt sich immer aus, und jede in Medienerziehung investierte Stunde hat das Potential, allen Beteiligten viele Stunden zu ersparen, die zur Aufarbeitung digitaler Krisen investiert werden müssen, und v.a. auch digitale Konsequenzen zu verhindern, unter denen Kinder und Jugendliche schlimstenfalls ihr Leben lang leiden müssen – denn das Netz vergisst nichts!

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